ray Filmmagazin » Diagonale 2019 » Der andere Blick
Diagonale 2019

Diagonale 2019

Der andere Blick

| Gabriela Seidel-Hollaender |
Eine Rückschau auf die Diagonale 2019

Mit Marie Kreutzers Der Boden unter den Füßen eröffnete die diesjährige Werkschau des österreichischen Films, die von 19. bis 24. März in Graz stattfand. Kreutzer zeichnet in ihrem Film über den Selbstoptimierungswahn und Kontrollverlust einer jungen Unternehmensberaterin das Porträt einer jungen Frau, die durch den psychischen Zusammenbruch ihrer Schwester selbst aus der Bahn geworfen wird. Die Protagonistin, deren professionelles Beraterleben von Hochleistungseffizienz und harter Konkurrenz in einer emotional unterkühlten Geschäftswelt bestimmt ist, durchlebt eine Krise, die auch ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen droht. Das Setting von Kreutzers Film erinnert an das von Maren Ades Toni Erdmann, in dem es ebenfalls um Mechanismen im internationalen Beraterbusiness geht, wenngleich die Tonlage der Filme sehr unterschiedlich ist. Während Ade auf demaskierende Übertreibung und Humor setzt, konzentriert sich Kreutzer auf die Darstellung des Psychogramms ihrer Protagonistin und mischt diese mit Thrillerelementen.

Werbung

Sudabeh Mortezai widmet sich in Joy dem Teufelskreis der Prostitution und erzählt mit Präzision von der perfiden Praxis, der nigerianische Sexarbeiterinnen in Europa ausgeliefert sind. Sie werden nach Europa geschleust, wo sie, abhängig und ohne eine Aufenthaltsgnehmigung, ihre Schulden für die Reise als Prostituierte abarbeiten müssen. Besonders erschütternd ist der Umstand, dass es Frauen sind, die als Zuhälterinnen fungieren. Diese waren einst selbst Sexarbeiterinnen und haben, sobald sie frei wurden, ihrerseits begonnen, andere Frauen auszubeuten. Mortezai erzählt wie schon zuvor in ihrem Spielfilmdebüt Macondo im Stil des dokumentarischen Realismus, auch wenn die Handlung fiktiv ist. Ihre Darstellerinnen sind Laien und kennen das Millieu. Nicht alle Szenen des Drehbuchs waren den Darstellerinnen vor dem Dreh bekannt, vieles ist improvisiert. Diese Arbeitstechnik, auf die sich die großartigen Darstellerinnen einließen, wie auch Mortezais sorgfältige Recherche und die sensible Kamerarbeit von Klemens Hufnagl, der die Nuancen des Ausdrucks in den Gesichtern der Protagonistinnen einfängt, ergeben einen starken Film, der Eindruck hinterlässt.

Das New Yorker Künstlerkollektiv „Nature Theater of Oklahoma“, das sich aus dem Duo Kelly Copper und Pavol Liska zusammensetzt, hat mit Die Kinder der Toten den gleichnamigen Gespensterroman von Elfride Jelinek aus dem Jahr 1995 verfilmt. Der auf Super-8 gedrehte Stummfilm mit Blasmusik, eine Mischung aus Groteske, Splatter, Horror und Homemovie, mischt die Elemente Literatur, Theater und Film auf faszinierende Weise zu einer ebenbürtigen Exegese von Jelineks Roman. Die Kinder der Toten ist zugleich ein bemerkenswert gegenwärtiger Blick auf den Zustand Österreichs, ein zeitgemäßer Heimatfilm der dritten Art.

Emily Atefs 3 Tage Quiberon erzählt von dem realen Interviewtermin zwischen Romy Schneider und dem „Stern“-Journalisten Michael Jürgs im Jahr 1981, das von dem Fotografen Robert Lebeck fotografisch dokumentiert wurde. Schneider offenbarte in diesem Gespräch viel von der Verzweiflung die ihr Leben zu diesem Zeitpunkt bestimmte und das veröffentlichte Interview hat für Aufsehen gesorgt. Atef setzt die Tage des Treffens zwischen der Schauspielerin und dem Journalisten auf der Grundlage der Fotos von Lebeck ebenfalls in Schwarz-Weiß in Szenen und ihr gelingt, massgeblich durch die hervorragende Darstellung von Marie Bäumer als Romy Schneider ein packendes Kammerspiel, das die unheilige Allianz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit dieser fragilen Schauspielerin auslotet.

Auch im Dokumentarfilm Szenen meiner Ehe wird das Private öffentlich. Der erste Film der Produzentin Katrin Schlösser ist ein durch und durch privates Dokument über die Beziehung zwischen der Filmemacherin und ihrem Mann Lukas, mit dem sie vor Jahren eine Affäre hatte und den sie nach dem zufälligen Treffen eine Dekade später heiratet. Schlösser dokumentiert ihr Zusammenleben, nimmt Lukas auf, während sie reden, essen, kurz vor dem Schlafengehen. Die Kamera wird immer mehr zum Teil ihrer Beziehung, ist immer dabei, auch Schlösser kommt immer wieder ins Bild. Verhandelt wird alles, was ihre Beziehung ausmacht, die Verhandlung über den Lebensmittelpunkt – Berlin oder das Burgenland? – den Umgang mit den älter werdenden Eltern, mit den Kindern, mit ihrer Geschichte, ihrer Sexualität. Es ist manchmal eine Zumutung für den Zuschauer, all diese intimen Details aus nächster Nähe mitanzusehen, doch die Offenheit und vor allem die Ehrlichkeit, mit der hier verhandelt wird ist entwaffnend und verleiht dem Film etwas Allgemeingültiges.

Eine Gruppe von Kuratorinnen hat für das diesjährige Special der Diagonale die Reihe „Staging Femininity: Projektionen von Weiblichkeit im östereichischen Film“, der ein Essay von Michelle Koch und Alexandra Zawia vorangestellt ist, zusammengestellt. Das Programm unterstreicht nur noch den Eindruck, der sich im gesamten Festivalprogramm des aktuellen österreichschen Filmschaffens ohnehin spiegelt: Auffallend viele Werke sind aus weiblicher Hand, von Regisseurinnen, die sich gern auch mit Frauen als Protagonistinnen beschäftigen.

Die Künstlerin Amina Handke und die Schauspielerin Aslı Kıslal haben den Stummfilm Die Ahnfrau der österreichischen Regisseurin Louise Kolm-Fleck aus dem Jahr 1919 ausgewählt und kommentierten den Film live. Zuvor wurde die nahezu vergessene Filmemacherin von der Autorin Uli Jürgens, die ein Buch über sie veröffentlicht hat, vorgestellt. Die Entdeckung dieser Filmpionierin ist erfreulich, ihre Biografie und ihr filmisches Schaffen sind beeindruckend. Der Live-Kommentar während der Vorführung von Die Ahnfrau wirkte zuweilen etwas unkoordiniert, war manchmal lustig, manchmal aber auch nicht überzeugend. Wenn die Kommentatorinnen sich an der Länge des Dialogs der männlichen Figur im Vergleich zur Kürze des Dialogs der Ahnfrau in Grillparzers Theaterstück (das die Vorlage für den Film war) festbeißen, kann man der Ausführung nicht wirklich folgen – schließlich ist Die Ahnfrau ein Stummfilm.

„Es hat mich sehr gefreut“ war der Titel des kurzweilige Programms, das Karola Gramman und Heide Schlüppmann zusammengestellt haben. Arbeiten von Linda Christanell, Moucle Blackout, Lisl Ponger, Mara Mattuschka, Angela Hans Scheirl und Ursula Pürrer gaben einen Einblick in das unabhängige, experimentelle und feministische österreichische Filmschaffen der siebziger und achtziger Jahre.

Die Frage nach dem „anderen Blick“ wird in dem Dokumentarfilm Sie ist der andere Blick von Christiana Perschon auf die beste Weise beantwortet. Die Regisseurin findet selbst bemerkenswerte Bilder und Perspektiven, um die im Film porträtierten Künstlerinnen adäquat zu präsentieren. Perschons Atelier verwandelt sich in einen „audiovisuellen Denkraum“, der den Künstlerinnen Renate Bertlmann, Karin Mack, Linda Christanell, Margot Pilz und Lore Heuermann, allesamt Teil der Wiener Avantgardeszene und aktiv in der Frauenbewegung der siebziger Jahre, die Gelegenheit geben, ihr künstlerisches Schaffen zu reflektieren. Aktionen der Künstlerinnen beleben ihr Werk wieder, zeichnen es performativ nach. Perschon zeigt die Kunst und die Künstlerinnen, verbindet das Gespräch mit Aktion und Bildern. Ein inhaltlich wie visuell sein Sujet durchdringender, wunderbarer Film.

Auch in diesem Jahr machte die Diagonale die große Ausstrahlung des österreichischen Film sichtbar, die sich auch in den zahlreichen internationalen Festivalteilnahmen spiegelt. Schade nur, dass dies von der heimischen Politik nur unzureichend gewürdigt wird, wie Stefan Grissemann in seinem Katalog-Gastessay beklagt.