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„Sophia, der Tod und ich“

Anna Maria Mühe

Die Spielwütige

| Pamela Jahn |
Anna Maria Mühe ist überall: Im Kino, Fernsehen und Theater zeigt die Schauspielerin ihr Können. Jetzt spielt sie in Charly Hübners Romanverfilmung „Sophia, der Tod und ich“ eine junge Frau, die so voller Leben ist wie sie selbst.

Eben saß sie noch als Chrissi im Rollstuhl und musste ihr ganzes Dasein neu ordnen. Ein Unfall bei ihrem Job als Stuntfahrerin war daran schuld. Jetzt klingelt Anna Maria Mühe als Sophia an der Haustür von Reiner (Dimitrij Schaad) Sturm, weil der mal wieder den Geburtstag seiner Mutter (Johanna Gastdorf) verpeilt hat. Man muss dazu sagen, Reiner ist Sophias Ex, aber sie kann schlecht loslassen – und man möchte meinen: Gott sei Dank. Denn der Altenpfleger hat gerade mit dem Tod zu kämpfen, buchstäblich. Als Morton (Marc Hosemann), ein Beauftragter der Nachwelt, plötzlich im Badezimmer neben ihm steht, ist das fatale Urteil bereits gefällt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.

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Zwei Filme, zwei Rollen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber der hiesige Startkalender will es so, dass Anna Maria Mühe gerade mit ganzer Kraft das Kino bespielt. Ihre Figur der Chrissi in Die Geschichte einer Familie wird im Gedächtnis haftenbleiben. In der jungen Frau, die brutal vom Schicksal überrollt wird, lebt vieles von dem auf, was Mühe zu einer der feinsten deutschen Schauspielerinnen ihrer Generation macht. Es ist diese Kombination aus Wucht und Zärtlichkeit, eine seltene Melange aus Lebenslust, Verzweiflung und einem Blick, in dem eine unergründliche Verwundbarkeit ruht. Dass sie auch anders kann und wie, zeigt sie nun erneut in Sophia, der Tod und ich, einer morbiden Komödie, in der ein Erzengel namens Michaela (Lina Beckmann) zu Beginn andächtig Sterbeaufträge verteilt. Ihre Lust am Diabolischen und Sinn für Humor hatte Mühe bereits zu Beginn des Jahres in dem Netflix-Alpenthriller Totenfrau bewiesen. Dort spielte sie eine Bestattungsunternehmerin in den Tiroler Bergen, deren Ehemann vor ihren Augen von einem flüchtigen Auto überfahren wird. Jetzt sorgt ihre Sophia in Charly Hübners Spielfilm-Regiedebüt dafür, dass Reiner so schnell, wie es das zuständige Personal vorsieht, nicht unter die Räder kommt.

Ob beschwingte, dramatische oder verstörende und ambivalente Rollen wie die verurteilte Rechtsterroristin Beate Zschäpe in dem TV-Dreiteiler Mitten in Deutschland: NSU, Mühe spielt stets aus einem tiefen inneren Bewusstsein heraus, um ihren Figuren Würde und Glaubhaftigkeit zu verleihen. Diese enorme Kraft, mit der sie vor der Kamera und neuerdings auch auf der Bühne steht, hat sich die 1985 geborene Berlinerin über die Jahre selbst erarbeitet. Als ihr Talent entdeckt wurde, war sie noch in der Schule und die Tochter der Schauspieler Jenny Gröllmann und Ulrich Mühe, die beide viel zu früh verstorben sind. Ihre Sophia ist das Herz von Hübners Film und es schlägt so stark, dass sie das Schlimmste zwar nicht verhindern, aber zumindest ein wenig herausschieben kann, während sie gemeinsam mit ihrem Ex, Mutter Lore und Morten auf Reisen geht, damit Reiner sich noch von seinem Sohn verabschieden kann.

Das Interview mit Anna Maria Mühe lesen Sie in unserer Printausgabe 09/23

Frau Mühe, wer ist Sophia für Sie? Und was will Sie von Reiner, ihrem Ex?
Anna Maria Mühe: Sie ist einfach wahnsinnig lebenshungrig und organisiert, zumindest wesentlich mehr als Reiner. Und man kennt das ja, es gibt solche Beziehungen, von denen man irgendwie nicht loskommt, auch wenn man sich eigentlich nicht mehr liebt. Aber man kümmert sich trotzdem, auch manchmal aus einer alten Gewohnheit heraus. Oder weil man sich, wie Sophia, mit der Mutter gut versteht. Unter anderen Umständen würde sie Reiner wahrscheinlich noch viel öfter sagen, was für ein Idiot er ist. Wenn dieses Todesurteil nicht im Raum stehen würde.

Im Gegensatz zu Morten, dem Tod in Person, ist Sophia der gute Geist der Geschichte. Ist das eine Situation, wo Sie sagen würden: Typisch Frau?
Anna Maria Mühe: Ich würde das nicht so verallgemeinern wollen. Aber in der Geschichte sind die Frauen die Macherinnen, die die Dinge in die Hand nehmen, die Entscheidungen treffen und losmarschieren. Das hat mich auch an der Figur gereizt, dass sie für das Positive steht, optimistisch ist. Ich habe in den letzten Jahren oft Figuren gespielt, die sehr tragisch waren und schwere Schicksalsschläge erlitten haben. Sophia war in der Hinsicht eine willkommene Abwechslung.

Am Anfang des Films stehen die Zeugen Jehovas vor Reiners Tür, die wissen wollen, wie es um seinen Glauben bestellt ist. Wie würden Sie antworten?
Anna Maria Mühe: Ich glaube an Schicksal. In meinem Leben ist viel passiert, das hätte gar nicht anders sein können, sein dürfen. Das hat meinen Weg beeinflusst und geprägt.

Haben Sie sich auch mal die Frage gestellt, wie Sie sich an Reiners Stelle verhalten würden?
Anna Maria Mühe: Ja, aber das geht schon mit ganz anderen Fragen los, die man erst mal für sich beantworten muss, bis man da hinkommt. Fragen wie „Kann ich mir vorstellen, so pessimistisch zu sein?“ Nein. „Kann ich mir vorstellen, ein so tragisches Schicksal einfach hinzunehmen, ohne dagegen zu kämpfen?“ Nein, das könnte ich nicht. Ich bin ein ganz anderer Typ.

Ihren Rollen ist oft ein leichter Humor eingeschrieben, selbst wenn die Figuren Schreckliches durchmachen müssen, wie etwa die Bestatterin Brünhilde Blum, die Sie in der Netflix-Serie „Totenfrau“ verkörpern. Warum ist Ihnen das wichtig?
Anna Maria Mühe: Bei Totenfrau stand das so nicht im Drehbuch, das habe ich mir speziell für die Figur überlegt. Ich fand es eine gute Charaktereigenschaft, so trocken mit bestimmten Dingen umzugehen.

Ist das auch etwas, was Sie persönlich von sich kennen?
Anna Maria Mühe: Nein, nicht auf diese krasse Art. Ich habe zwar schon auch einen klassischen Galgenhumor, wenn es hart auf hart kommt, aber ganz so morbide bin ich dann doch nicht.

Was macht eine gute Komödie für Sie aus?
Anna Maria Mühe: Ich mag schon lieber den schwarzen Humor – die Art Humor, bei der man sich nicht auf die Schenkel klopft, sondern der vielleicht auch manchmal ein bisschen weh tut. Aber eine gute Komödie braucht vor allem Schauspieler und Schauspielerinnen, die ein Gefühl für perfektes Timing haben.

„Sophia, der Tod und ich“ ist das Spielfilm-Regiedebüt Ihres Kollegen Charly Hübner. Sind Schauspieler insgeheim die besseren Filmemacher?
Anna Maria Mühe: Das würde ich so nicht sagen, aber Charly Hübner ist ein extrem guter Regisseur. Außerdem eilt ihm in unserer Branche ein großartiger Ruf voraus, weil er sympathisch, humorvoll und offen ist – und weil er das Herz am rechten Fleck hat. So ist er auch, wenn er hinter der Kamera steht. Es war eine Arbeit auf Augenhöhe. Er hat sich mit uns auf die Reise begeben, wenn es darum ging, die Dinge vielleicht auch mal anders zu sehen oder in andere Richtungen zu gehen. Und ich hatte das Gefühl, dass er genau wusste, an welchen Momenten es jetzt vielleicht einsam aussieht in einem Schauspieler. Es ist schön in solchen Momenten gesehen zu werden. Ich kannte das bisher nur von wenigen Regisseurinnen, wie zum Beispiel Sherry Hormann oder Mira Thiel. Aber es ist eine eher seltene Gabe.

Sie haben mal gesagt, Sie müssen Ihre Figuren lieben. Wie schaffen Sie das, wenn Sie eine Frau wie die NSU-Terroristin Beate Zschäpe verkörpern?
Anna Maria Mühe: Das war ein schwieriger Weg. Im Grunde geht es mir darum, dass ich die Figur verstehen muss, warum sie welchen Schritt tut oder warum sie welchen Gedanken fasst. Das gelingt nicht immer. Und bei Beate Zschäpe war das natürlich eine ganz besondere Herausforderung. Aber auch da habe ich Seiten an der Figur entdeckt, die ich liebenswürdig fand. Ich muss für die Zeit, in der ich die Rolle spiele, meine Figur verteidigen, darauf kommt es an.

Was hat Ihnen die Figur am Ende näher gebracht?
Anna Maria Mühe: Der Film beginnt in einer Zeit, in der Beate oft in einem Jugendclub abhängt, und dort verliebt sie sich irgendwann in Uwe Mundlos. Ich habe mir ganz oft vorgestellt, was gewesen wäre, wenn sie einfach einen anderen Mann kennengelernt hätte. Vielleicht wäre sie Punkerin geworden. In dem Alter, mit vierzehn oder fünfzehn, ist man noch so formbar und flexibel, dass es einen komplett aus der Bahn werfen kann, sich in den „falschen“ Menschen zu verlieben.

Können Sie der Figur gegenüber toleranter sein als der realen Person?
Anna Maria Mühe: Ja, das muss ich, zumindest solange ich die Figur spiele. Das war in dem Fall besonders hart, vor allem, mit so einer Selbstverständlichkeit rumzulaufen, was die politische Gesinnung angeht. Ich habe mich dann jeden Abend nach dem Dreh ewig geduscht, weil ich das Gefühl hatte, ich muss diesen Dreck abspülen.

Welche Figur, die Sie gespielt haben, hat Ihnen bisher am meisten imponiert?
Anna Maria Mühe: Das ist schwer zu sagen. Ich nehme solche Wertungen ungern vor, weil ich jeder Figur etwas abgewinnen kann. Gerade habe ich in Die Geschichte einer Familie eine junge Frau gespielt, die nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Da hat mir zum Beispiel unheimlich imponiert, wie sie trotz dieses unglaublichen Schicksalsschlags, die Zuneigung zum Leben wieder in sich findet.

Es ist ein sehr persönlicher Film, und in solchen Rollen sieht man Sie eher selten. Warum eigentlich?
Anna Maria Mühe: Es gibt einfach nicht viele Rollen, die so persönlich sind, die quasi ans Eingemachte gehen. Andererseits würde ich das auch gar nicht wollen. Ich könnte nicht permanent mit einer solchen Intensität spielen, weil man dabei natürlich auch als Schauspielerin an die tiefsten inneren Gefühle geht – und das ist ein sehr einsamer Posten, auf dem man dann steht.

Sie stammen zwar aus einer Schauspielerfamilie, aber entdeckt wurden Sie für Ihre erste Hauptrolle in Maria von
Helands Spielfilm „Große Mädchen weinen nicht“ auf der Straße. Wie stark war der Wunsch, Schauspielerin zu werden, damals schon in Ihnen ausgeprägt?
Anna Maria Mühe: Der Wunsch war groß, aber er wurde zuhause nicht gerne gehört. Ich glaube, dass meine Eltern mich schützen wollten, gerade weil sie die Tücken des Berufs kannten und viele Freunde hatten, die als Schauspieler nicht genügend Engagements bekamen. Und für jeden künstlerischen Beruf ist es natürlich schrecklich, wenn man ihn nicht ausüben kann. Das ist zermürbend.

Warum haben Sie sich gegen eine Schauspielausbildung entschieden?
Anna Maria Mühe: Es war, ehrlich gesagt, eine Zeitfrage. Ich habe nach Große Mädchen weinen nicht im Schnitt jedes Jahr ein, zwei Filme gedreht. In der Phase habe ich mich viel mit meinen Freunden und Kollegen August Diehl und Daniel Brühl unterhalten. Beide haben mir indirekt davon abgeraten, eine Ausbildung zu machen, weil sie Angst hatten, dass ich dadurch vielleicht meine Authentizität verlieren würde, das, was mich ausmacht, die Fähigkeit, aus dem Moment heraus, aus dem Bauch heraus zu spielen.

Sie haben sich alle drei bei „Was nützt die Liebe in Gedanken“ näher kennengelernt. War dieser Dreh sozusagen Ihre Schule, haben Sie dort Ihr Handwerk gelernt?
Anna Maria Mühe: Das war sehr prägend, ja. Aber generell ist jeder Dreh wie eine Übung, und man lernt nie aus. Man denkt am Ende immer: Jetzt habe ich so viel erlebt. Dann kommt der nächste Film, und man hat das Gefühl, alles ist total neu. Mittlerweile bin ich seit 22 Jahren dabei, und trotzdem immer wieder überrascht.

Seit 2016 haben Sie Ihre eigene Krimiserie, „Solo für Weiss“. Sind Sie auch privat ein Krimi-Fan?
Anna Maria Mühe: Ja, aber ich bin damit aufgewachsen. Wenn ich mich heute neu entscheiden dürfte, weiß ich gar nicht, ob dann der Krimi noch unbedingt meine erste Wahl wäre. Davon abgesehen macht es unglaublich Spaß, diese Figur Nora Weiss zu verkörpern. Und für Zuschauer gibt es doch nichts Spannenderes als einen guten Krimi, bei dem man vielleicht sogar mitraten kann oder der psychologisch so fesselt, dass es vollkommen egal ist, wer der Täter oder die Täterin ist.

Vor kurzem haben Sie in Berlin zum ersten Mal Theater gespielt. Was hat Sie so lange davon abgehalten?
Anna Maria Mühe: Ich finde es nicht einfach, mit dem Familiennamen, den ich trage, an eine Bühne zu gehen, weil ich das Glück habe, Eltern gehabt zu haben, die in ihrem Beruf einfach großartig waren. Und der Vergleich ist leider sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei Kritikern immer gegeben, man kann es nicht vermeiden. Das ist absurd. Manchmal frage ich mich: Wie kommt man da drauf? Und trotzdem ist es so. Man muss sich dem stellen, und es ist etwas, wovor man gewappnet sein muss, wofür man sich auch stark genug fühlen muss, um sich dem auszuliefern.

Wie geht es Ihnen jetzt damit? Haben Sie Blut geleckt, oder bleiben Sie lieber beim Film und Fernsehen?
Anna Maria Mühe: Ich habe früher nie verstanden, wenn Kollegen gesagt haben, man kann das eine nicht mit dem anderen vergleichen, aber es geht wirklich nicht. Das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Dieser Rauschzustand, wenn man auf der Bühne steht, fast jeden Abend. Und was man gestern vielleicht auf der Bühne versaut hat, das will man heute besser oder anders machen. Dass man sich mit jeder Vorstellung nochmal neu bewegen kann, ist toll. Man kommt mit der Energie, die man eben an dem Tag hat, ins Theater. Aber auf der Bühne muss man dem Publikum trotzdem irgendwie zweieinhalb Stunden lang vorgaukeln, dass man wahnsinnig gut gelaunt ist, obwohl einem vielleicht gerade zum Heulen zumute ist. Das ist ein wahnsinniger Energieverbrauch.