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Die Theorie von Allem

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Die Theorie von Allem

| Hans Langsteiner |
Quantenphysik auf dem Zauberberg

In der Wissenschaft ist sie umstritten, im Kino hat sie Konjunktur: die Sache mit den Multiversen. Den Comic-Welten von Marvel & Co. und dem fröhlich flirrenden Oscar-Sieger Everything Everywhere All at Once folgt jetzt so etwas wie eine düster historisierende Alpin-Variante in stilisiertem Schwarzweiß.

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Irgendwann in den frühen 1960er-Jahren reist ein junger Physikstudent in die Schweizer Berge, um dort gemeinsam mit seinem grantigen Doktorvater an einem Kongress früher Quanten-Physiker teilzunehmen. Allein: Der Hauptredner trifft nie im Berghotel ein, eine Jazz-Pianistin sendet viel verheißende Blicke und am Himmel ballen sich Wolken in bizarrer Formation. Damit nicht genug: Bald verschwinden Kongressteilnehmer, ein Ermittlerduo ermittelt wegen Mordes, unterirdische Stollen werden erforscht und geheimnisvolle Strahlungen zeitigen ungeahnte Folgen. Werden hier verbotene Experimente durchgeführt, Verbrechen vertuscht oder gar Tore zu anderen Dimensionen durchbrochen?

Nicht alle Rätsel klären sich am Ende auf, doch das tut nicht nur nichts zur Sache, sondern führt auf einer übergeordneten Ebene auch direkt ins Zentrum der Thematik. Wo wäre schließlich eine Geschichte, die jede denkbare Wendung nehmen kann, wo wäre Die Theorie (und die Praxis) von Allem besser aufgehoben als im Kino? Und so, als eine Art Meta-Film über die Faszination des Unauslotbaren, hat der bisher wenig bekannte deutsche Regisseur Timm Kröger (Zerrumpelt Herz) diesen wissenschaftlichen Fantasy-Thriller denn auch inszeniert. Tableaus von raffiniert ausgeleuchteter Künstlichkeit (gedreht unter anderem im heimischen Südbahnhotel) und eine opulent aufrauschende Musik, die bald an Bernard Herrmann, bald an Milkos Rozsa erinnert, verorten das Geschehen mitten in Hollywoods Film-Noir-Ära.

Nicht zuletzt auf Hitchcocks Spellbound (Ich kämpfe um dich, 1945) wird hier bis ins Detail eines in das Schwarzweiß-Material einkopierten roten Einzelkaders angespielt, und auch die Welt der Literatur bricht in die kalte Bergeinsamkeit herein: Zwei sinistre Ermittler lassen an ähnliche Figuren bei Franz Kafka denken, und selbst das berühmte Schneetraum-Kapitel aus Thomas Manns „Zauberberg“ findet sich in einer Episode variiert wieder.

In Summe ergibt das einen Film von geradezu hypnotischer Sogwirkung – als hätte der frühe Lars von Trier, sagen wir, der aus seiner Europa-Phase, ein drogenumnebeltes Remake von Oppenheimer gedreht. Der Geheimtipp von heute ist der Kultfilm von morgen.