Das war die 75. Berlinale - ein Rückblick
Ist das Kind tot? Kein Geschrei, kein Weinen. Im Kreißsaal herrscht Stille. Angst erfüllt den sterilen Raum. Plötzlich eilen Arzt und Schwestern mit dem Neugeborenen davon, ohne dass Julia und Georg erfahren, was passiert ist und ob ihr Baby lebt. Von diesem Moment an liegt ein merkwürdiger Schleier über Johanna Moders Film Mother’s Baby, der in diesem 75. Berlinale-Jahrgang im Wettbewerb lief. Nach ihrem tragikomischen Drama Waren einmal Revoluzzer (2019) über zwei befreundete Wiener Bobo-Paare seziert die österreichische Regisseurin und Drehbuchautorin diesmal das Verhältnis einer ambitionierten modernen Frau zu ihrem befremdlichen kleinen Jungen, der weder geräuschempfindlich ist noch Hunger hat und kaum zu atmen scheint.
Es mag Zufall sein, dass mit Mother’s Baby erneut ein österreichischer Beitrag ins Rennen um den Goldenen Bären ging, der sich mit dem Muttersein beschäftigt. 2024 hatte das Regie-Duo Veronika Franz und Severin Fiala mit ihrem historischen Horrorszenario Des Teufels Bad den Fokus auf das Thema weibliche Depression und Kinderwunsch gerichtet. Martin Gschlacht erhielt für seine beeindruckende Kameraarbeit den Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung. Moder und ihr Team konnten an den Erfolg zwar nicht anknüpfen, der Film ging bei der Preisverleihung schließlich leer aus. Aber insbesondere Marie Leuenberger in der Hauptrolle legt hier eine schauspielerische Glanzleistung vor und sorgt dafür, dass der Film als einer der sehenswertesten Beiträge dieser Berlinale in Erinnerung bleibt.
Tatsächlich fiel heuer vor allem das deutschsprachige Kino positiv auf, angefangen mit Tom Tykwers Das Licht, der das Festival eröffnete; ein Film, der den lokalen Befindlichkeiten in der Hauptstadt ebenso wie den globalen gesellschaftspolitischen Krisen nachspürt – und das auf internationalem Kino-Niveau. Tykwer will sehr viel in diesem komplexen Familiendrama über die Suche nach Zusammenhalt und Nähe in unserer von Krieg und Chaos gebeutelten Welt. Bisweilen schießt er dabei formal wie inhaltlich über das Ziel hinaus oder am Punkt vorbei. Die langjährige Arbeit an der Erfolgsserie Babylon Berlin hat ihn jedoch offensichtlich nicht ermüdet. Im Gegenteil. Es steckt so viel Kraft und Engagement in der Geschichte und den Bildern, die der visionäre Regisseur hier findet, dass einem Das Licht noch lange nach der Vorführung in den Augen brennt.
Tricia Tuttle, die im April 2024 ihren Job als neue Intendantin des Festivals antrat, hätte sich kaum einen passenderen Film zum Auftakt wünschen können. Die Auswahl der Wettbewerbsbeiträge fiel dagegen – nach Berlinale-Maßstäben – gewohnt durchwachsen aus. Man hatte nach der insgesamt eher enttäuschenden Amtszeit ihres Vorgängers Carlo Chatrian alle Hoffnung auf die bisherige Leiterin des London Film Festivals gesetzt, doch die blieb weitgehend unerfüllt. Andererseits lässt sich nach einem Durchgang natürlich kein hinreichendes Urteil über die Fähigkeiten und Möglichkeiten der gebürtigen Amerikanerin fällen, ob und wie es ihr gelingen kann, der Berlinale ein neues Profil zu verleihen. Fest steht: Tuttles initiale Strategie – mehr internationale Großproduktionen mit Stars in der „Berlinale Spezial“ Gala-Reihe laufen zu lassen und eine neue Wettbewerbssektion mit Debütfilmen unter dem Namen „Perspectives“ einzuführen – macht deutlich, dass da noch viel Luft nach oben ist.
Einige filmische Entdeckungen ließen sich dennoch auch in diesem Jahr machen. Man musste sich, wie immer, nur ein bisschen auf die Suche begeben, dann wurde man belohnt. Zumal die Hollywood-Filme, die auf dem roten Teppich etwas hermachen sollten, ihre Weltpremieren längst an anderen Orten gefeiert hatten. Allen voran das bereits unmittelbar nach dem Festival im Kino anlaufende Bob Dylan-Biopic A Complete Unknown mit Timothée Chalamet als Frontmann sowie Bong Joon-Hos Sci-Fi-Komödie Mickey 17, in der Robert Pattinson eine Doppelrolle spielt. Als spannender erwies sich ein Blick in die Nebenreihen, dort konnte man beispielsweise die neuen Filme von Ina Weisse (Zikaden) und Petra Volpe (Heldin) sehen, zwei Dramen, die nach außen hin unscheinbar wirken, aber tief unter die Haut gehen.
Was den Wettbewerb betrifft, hat sich die Jury bei der Preisvergabe in erster Linie diplomatisch gezeigt. Der Goldene Bär ging nach Norwegen: Dreams ist der zweite Film einer Trilogie von Dag Johan Haugeruds. Der abschließende Teil, Love, lief bereits vor einigen Monaten im Wettbewerb von Venedig, während der erste, Sex, im Vorjahr in der Sektion Panorama zu sehen war. Hinter dem Dreiteiler verbergen sich jeweils verschiedene Beziehungsgeschichten, die von einer großen Beiläufigkeit zeugen, aber zugleich klug und warm und leichtfüßig erzählt sind. Manchmal muss ein Film nicht mehr sein, um zu überzeugen.
Auch der Silberne Bär für eine herausragende künstlerische Leistung an das Team von Lucie Hadzihalilovics The Ice Tower war durchaus gerechtfertigt. Die düstere Märchen-Adaption der französischen Regisseurin, in dem Marion Cotillard als Schneekönigin brilliert, war einer der filmisch ehrgeizigsten Beiträge und ein Highlight des Wettbewerbs.
Der rumänische Regisseur Radu Jude, ein mit seinem bissig-klugen Gegenwartskino beliebter Dauergast der Berlinale (sein Film Bad Luck Banging or Loony Porn gewann 2021 den Goldenen Bären) erhielt für seinem neuen Film Kontinental ’25 diesmal den Drehbuchpreis. Mit dem Silbernen Bären für die beste Regie wurde derweil der Chinese Huo Meng ausgezeichnet; sein Film Living the Land zeugt von einem feinen Gespür bei der Entwicklung seiner Figuren ebenso wie im Hinblick auf die Bildkomposition. Über den Preis der Jury durfte sich der argentinische Regisseur Iván Fund für sein Roadmovie The Message freuen, das ohne viel Worte auskommt und stattdessen auf lange Einstellungen setzt, während der Große Preis der Jury an The Blue Trail von Gabriel Mascaro vergeben wurde, ebenfalls ein Roadmovie, in dem der Brasilianer einen nicht ganz realistischen Blick auf sein Heimatland wirft.
Bleiben noch zwei Preise und zwei Filme zu erwähnen, die in diesem Wettbewerb angenehm auffielen: Blue Moon von Richard Linklater und If I Had Legs I’d Kick You von Mary Bronstein über eine berufstätige Mutter, deren Leben ihr aus den Händen zu gleiten droht. Rose Byrne verkörpert diese Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs glaubwürdig und mit viel Sympathie für ihre Figur, wofür sie einen Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung erhielt.
Der Brite Andrew Scott ist in Linklaters Film neben einem grandiosen Ethan Hawk als der legendäre jüdische Songschreiber Lorenz Hart zwar „nur“ in einer Nebenrolle zu sehen. Aber sein Auftritt als Komponist Richards Rodgers überzeugte die Jury ebenfalls so sehr, dass sie ihn mit einem Preis versah.
Unterm Strich war Blue Moon einer der unterhaltsamsten Filme dieser 75. Berlinale, für Tricia Tuttle erwies sich der Auftakt ihrer Amtszeit insgesamt sicherlich als eine recht schwere Geburt. Aber als Publikumsmagnet funktionierte das Festival trotzdem wieder prima, die Kinos waren in der Regel bestens besucht.