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EVIL DOES NOT EXIST

Evil Does Not Exist

Fesselndes Verweilen

| Alexandra Seitz |
Regisseur und Drehbuchautor Hamaguchi Ryūsuke widmet sich in „Evil Does Not Exist“ der Sabotage der Natur im Dienste des Profits.

 

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Minutenlang geht der Blick in den Himmel, in die Bäume, Äste, ins Gesträuch, darüber sich das Blau eines sonnigen Tages wölbt. Als würde man mit in den Nacken gelegtem Kopf direkt nach oben schauen. Ob da etwas ist? Und wenn ja, was? Gott? Stellt sich die Frage überhaupt? Zu hören ist sinfonische Musik mit tragischer Schlagseite; mancher mag Anklänge von Max Richters „This Bitter Earth“ vernehmen, kaum hörbar geworden, sind sie schon wieder verklungen. Die Musik stammt von Ishibashi Eiko, mit der zusammen Hamaguchi Ryūsuke auch das Drehbuch für Evil Does Not Exist schrieb. Abrupt unterbrochen wird der Fluss von Musik und Bewegung des Blicks durch die Wipfel des Waldes jeweils für wenige Sekunden: um die schwarzen Tafeln zu zeigen, auf denen in weißer Schrift die Filmcredits zu lesen sind.

Das geschieht tatsächlich abrupt, nicht einfach nur plötzlich, sondern dergestalt, dass es einen reißt und man das erste Mal misstrauisch wird. Es ist kein unbefangen genussvoller Blick in die freie Natur, der sich einem bietet, sondern ein forschender Blick, der Störungen unterliegt. Es mag hier zwar paradiesisch aussehen, es ist aber kein Paradies; der Sündenfall ist jederzeit möglich und die Vertreibung lässt dann auch nicht lange auf sich warten.

 

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Doch zunächst lernen wir die Leute kennen. Filmemacher Hamaguchi – geboren 1978 in Kanagawa, ausgebildet an der Universität Tokyo und einer der wichtigsten zeitgenössischen Filmemacher Japans – hat in seinem bisherigen Werk ja bereits des Öfteren unter Beweis gestellt, dass er es nicht eilig hat. Über fünf Stunden dauert Happy Hour, sein bereits siebter Spielfilm, mit dem ihm beim Locarno Film Festival 2015 der internationale Durchbruch gelingt. Drei Stunden Zeit lässt er sich in Drive My Car, für den er 2021 eine schier unendliche Reihe von Preisen einheimst, darunter den Oscar für den Besten Internationalen Film. Aber auch Filme, deren Lauflänge sich um die traditionellen zwei Stunden herum bewegt – wie beispielsweise der aus zwei Anläufen auf ein und dieselbe (oder möglicherweise doch nicht?) Figur bestehende, 2018 im Wettbewerb von Cannes uraufgeführte Asako I & II oder der Drei-Schritt-Episoden-Film Wheel of Fortune and Fantasy (2021 bei der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet) –, erscheinen in der Erinnerung deutlich länger, fühlen sich deswegen aber noch lange nicht lange an; ebenso wenig wie Drive My Car sich lang anfühlt, oder Happy Hour. Dass sie schon gleich gar nicht langweilig sind, versteht sich von selbst. Auch in den „nur“ 106 Minuten von Evil Does Not Exist, der im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen von Venedig gleich mehrfach prämiert wurde, erreicht Hamaguchi enorme Bedeutungstiefe. Das führt im vorliegenden Fall zum erstaunlichen Eindruck, dass der Film eigentlich gerade erst so richtig begonnen hat, als er auch schon die Klimax erreicht und ohne die im japanischen Kino sonst so beliebte dreifache Koda plus Klaviergeklimper zu Ende geht. Eher explodiert: mit einem fulminanten Paukenschlag von einem rätselhaften Ende, das andere Filmemacher sich in ihren kühnsten Träumen nicht einmal auszumalen wagen.

Aber wir wollten ja eigentlich die Leute kennenlernen. Die Leute, das sind die Bewohner des Dorfes Mizubiki; es ist von Tokyo aus mit dem Auto recht bequem in einer etwas längeren Fahrt zu erreichen, fühlt sich dann aber, ist man erst angekommen, sofort an, als läge es fernab aller Hektik und Betriebsamkeit, die dem modernen Metropolenbewohner zu schaffen machen, also richtig weit weg. Weswegen Mizubiki, genauer: die Gegend drumherum, von einem windigen Start-up-Unternehmen auch als idealer Standort für einen Glamping-Park ausersehen worden ist. Sie wissen schon, so etwas wie Camping, aber eben mit den Annehmlichkeiten eines Hotels. Post-pandemisch greifen alle nach allen Strohhalmen und so sitzen mit einem Male zwei Vertreter des bestenfalls halbdurchdachten Projektes im Gemeindesaal und führen ihr mit Fahrstuhlmusik untermaltes Event-Tourismus-Propagandavideo vor. Da blendet Hamaguchi gnädig ab. Als das Licht wieder angeht, treffen turbokapitalistische Ausbeutungsstrategien auf ein funktionierendes Gemeinwesen, das den Begriff Gemeinwesen weiter fasst, als es der intendierten Gewinnmaximierung zuträglich wäre. Vielmehr sind die Leute von Mizubiki sich ihrer Verantwortung für „die Natur“ (im Wesentlichen ja meist nicht mehr als mehr oder minder kultivierte, mehr oder weniger große Grünstreifen) bewusst. Und haben darüber hinaus noch einen Begriff von der Wichtigkeit der Reinheit des Wassers für den Geschmack von Soba-Nudeln. Die Schurken aus der Stadt beißen also auf Granit. Erstmal.

Dann aber erklärt sich der Witwer und Gelegenheitsarbeiter Takumi dazu bereit, den beiden Abgesandten – Takahashi und Mayuzumi, die im Übrigen ja auch nur nach einem Platz auf der Welt suchen, an dem sie nicht länger unglücklich sind – die Besonderheit der Landschaft zu erschließen. Insbesondere Takahashi zeigt sich begeistert; es ist das erste Mal, dass er Holz hackt und schon glaubt er sich an den Busen von Mutter Erde gehoben. Unterdessen vergisst Takumi wie so oft, seine Tochter Hana von der Schule abzuholen; und wie so oft macht Hana sich dann eben alleine auf den Weg durch den Wald und über die Felder – was soll schon passieren?

All dies kommt vollkommen unaufgeregt daher, im Stil einer teilnehmenden Beobachtung. Die Kamera von Kitagawa Yoshio nimmt eine Position eher am Rand des Geschehens beziehungsweise etwas entfernt davon ein und lässt die Dinge sich entfalten. Die Perspektive des Publikums ist die einer ruhigen Betrachtung, man möchte sagen: Kontemplation. Und während sich (scheinbar) wenig tut, laden sich die Bilder metaphorisch auf und beginnen die einzelnen Elemente des Geschehens und ganze Sequenzen der Handlung weit über sich hinauszuweisen. Wobei es Hamaguchi nicht um Verklärung geht; weder glaubt er an jene „Rückkehr zur Natur“, die die städtischen Unternehmer den Konsumenten zu verkaufen suchen, noch glaubt er überhaupt auch nur an eine einstmalige Harmonie, in der der Mensch mit ihr gelebt haben soll. Dementsprechend schlägt es uns am Ende nieder.