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Undine

Berlinale-Blog 2

Frauen, Männer, Geister

| Daniela Sannwald |
Die ersten Filme des Berlinale-Wettbewerbs sind von jeder Menge unsichtbarer Präsenzen bevölkert, die für nichts weniger als für die Weltlage stehen.

Dass der Mann ein Widerling ist, merkt man gleich: Im Flugzeug drangsaliert er die Flugbegleiterin, weil seine Rückenlehne sich nicht weit genug nach hinten neige, und das beim Start, wo sie das sowieso nicht soll. Als er darauf hingewiesen wird, brummelt er, dass er Schadenersatz geltend machen werde. Seine Freundin oder Geliebte – lange kennen die beiden einander noch nicht, wie man später erfährt – ist peinlich berührt, aber hormonell zu aufgewühlt, um die Warnsignale ernst zu nehmen. Im argentinisch-mexikanischen Wettbewerbsbeitrag El Prófugo (The Intruder) fliegen Leopoldo und Inés in einen Traumurlaub in einem Retreat unter Palmen, wo er eine Fremdschäm-Situation nach der anderen inszeniert. Das Ganze ist so unangenehm, dass man es noch im Kinosessel kaum aushält, und man fragt sich, warum Inés ihm nicht langsam den Laufpass gibt. Als das Paar schließlich mittelbetrunken und kichernd und schmusend im Hotelzimmer ankommt, wird es richtig schrecklich. Nach wildem Sex schläft Inés ein und murmelt etwas, worauf Leopoldo einen Eifersuchtsanfall bekommt, sie körperlich und psychisch drangsaliert und bedroht. Inés schließt sich im Bad ein, Leopoldo rüttelt eine Weile an der Tür, sie sagt ihm endlich, dass er verschwinden soll, dann wird es still. Als sie das Bad verlässt, steht die Balkontür offen, und unten liegt Leopoldo tot im Pool.

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El Prófugo erzählt vom Leben nach einer traumatischen Erfahrung: Inés (Érica Rivas), die als professionelle Sprecherin asiatische Horrorfilme synchronisiert, produziert plötzlich Geräusche, die bei der Aufnahme stören; auch beim Singen im Chor leidet sie darunter. Sie hat Albträume, in denen sie sich verliert, und immer wieder sieht sie den toten Leopoldo irgendwo. Als ihre Mutter sie besucht und ein junger Organist sich in sie verliebt, scheint Besserung möglich, aber eigentlich fangen die Probleme dann erst richtig an.

Die Regisseurin Natalia Meta hat El Prófugo inszeniert, buchstäblich als einen Gang durchs Dunkel, denn Tageslicht bekommt man nach Leopoldos Tod nicht mehr zu sehen. Das Dunkel visualisiert natürlich Inés‘ Innenleben, aber manchmal hat man das Gefühl, dass es auch den Zuschauerinnen und Zuschauern die klare Sicht verwehren soll. Als eine Art Geisterseherin auftaucht, die bei Inés den titelgebenden „Eindringling“ diagnostiziert, den wiederum ein Toningenieur mit einer komplizierten technischen Apparatur austreiben will, kriegt man ein bisschen schlechte Laune ob des altmodisch anmutenden Horrorinstrumentariums.

Interessant jedoch ist der feministische Aspekt – man darf ihn der Regisseurin sicher unterstellen – an El Prófugo: Es ist auch ein Film über die eigene Stimme, die bei Inés offenbar durch Schuldgefühle nicht mehr funktioniert, wie sie soll. In dem Moment nämlich, in dem die Protagonistin sie erhebt, den dämlichen Liebhaber anbrüllt, er sei ein Arsch und solle endlich verschwinden, beginnt ihr Unglück. Und der verschmähte Liebhaber triumphiert post mortem: Sie wird ihn ihr ganzes Leben lang nicht vergessen. Da sie selbst ihrer Mutter und dem neuen Lover nicht vertrauen kann, bleibt sie allein. Sieg des toxischen Mannes auf der ganzen Linie.

Ein Film über eine oder vielleicht zwei toxische Beziehungen ist auch Christian Petzolds neuer Film Undine, einer der bisher am höchsten gehandelten Bären-Kandidaten. Petzold hat den Undine-Mythos von der Wassernymphe, die ihrem Geliebten den Tod bringt, wenn er sie verrät – das Paradebeispiel einer toxischen Beziehung – ins zeitgenössische Berlin und an einen Stausee in Nordrhein-Westfalen übertragen, wo der Industrie-Taucher Christoph seinem Beruf nachgeht. Er ist die neue Liebe der Historikerin Undine, auf die sie sich gleich einlässt, nachdem sie von seinem Vorgänger verlassen worden ist. Und dieser Christoph entführt sie in seine Unterwasser-Welt, die doch eigentlich ihr Element sein sollte. Ist er vielleicht ebenfalls ein Verderber, der einer Geliebten, von der er sich verlassen glaubt, den Tod bringt?

Das Unterwasser-Sein ist eine schöne Metapher fürs Frisch-Verliebtsein, man taucht ja tatsächlich ab. Und es ist dunkel da unten und geheimnisvoll, mitunter sieht man Dinge oder Wesen, an die man sich später, wenn man sozusagen wieder an Land ist, nicht mehr erinnern kann. Undine (Paula Beer) und Christoph (Franz Rogowski) stürzen sich in Undine aufeinander und können nicht mehr voneinander lassen. Ihre Gefühle sind gewaltig und überwältigend, die Spannung zwischen ihnen lässt immer wieder Glas splittern, und selbst noch als Zuschauer/in hält man sie kaum aus. Da macht es kaum etwas, dass Paula Beer sich ein bisschen zu sehr aufs Schönsein und Franz Rogwoski auf sein physisches Überagieren verlässt…

Dass Menschen in der Phase der ersten Verliebtheit in höchstem Maß irrational sind, dass sie Dinge hören und sehen, die niemand sonst wahrnimmt, dass sie sich auf Zeichen und Wunder verlassen und die Realität leugnen, dass sie vor lauter Glück kaum atmen können, auch davon erzählt dieser Film, der nichts erklärt, sondern nur beschreibt – etwa ein Telefongespräch zwischen den Liebenden, das, wie sich später herausstellt, gar nicht stattgefunden haben kann. Und wie in El Prófugo verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Realität.

Ausgerechnet Museumsführerin ist Undine; sie erzählt ihren Besuchergruppen immer wieder die Geschichte des Stadtschlosses oder aber überhaupt der auf Sumpfland gebauten Stadt Berlin. Und so ist der Film vielleicht auch eine Parabel auf das Leben in der Großstadt im Neoliberalismus, auf prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse – was bedeutet schon eine verschwundene Freelancerin für ihren Arbeitgeber oder eine Wohnungsnachbarin in einem Haus, in dem möblierte Wohnungen kurzzeitig vermietet werden?

Wie friedlich und still ist dagegen die Welt unter Wasser, schwebende Pflanzen scheinen die Abgetauchten freundlich zu begrüßen, eine versunkene, steinerne Stele bestätigt offenbar die Liebesbeziehung, die leise blubbernden Blasen, die von den Tauchermasken aufsteigen, sind wie Perlen, und dann und wann dringt ein Sonnenstrahl nach unten, der ein Wegweiser sein könnte, wenn man denn die Tiefe verlassen wollte. Aber die Tiefe birgt eben auch Monster.

Monster, Geister und Übersinnliches bestimmen auch das Leben im Hause der Soares im brasilianischen Wettbewerbsbeitrag Todos os mortos. Der Film spielt 1899 in Brasilien; die Sklaverei ist vor zehn Jahren abgeschafft worden, und mancher Gutsbesitzer, dessen Reichtum auf unbezahlter menschlicher Arbeitskraft basierte, ist verarmt. Eine solche Familie sind die Soares – einst reicher Plantagenbesitzer, arbeitet der Vater nun in Verleugnung seines degradierten Status immer noch auf dem Land, während er seine Frau und seine beiden erwachsenen Töchter in die Stadt geschickt hat. Die drei Frauen kommen auf unterschiedliche Weise nicht klar mit ihrem Schicksal: Die Mutter, Isabel, hat sich in körperliche Gebrechen geflüchtet, ihre Tochter Maria ins Kloster, und Ana, die Jüngste, in Wahnvorstellungen: Sie hat die Verarmung der Familie am wenigsten verkraftet und umgibt sich mit den ehemaligen, teils zu Tode geschundenen Sklaven der Plantage.

Die Konventionen zwingen sie zur Passivität, aber Ana spielt wilde Tänze auf dem Klavier und vergräbt mit großem Elan Dinge im Garten, und Maria trinkt heimlich Wein und ist womöglich verliebt in eine ihrer Schülerinnen, denn die Nonne unterrichtet an einer Mädchenschule. Der Umgang mit den ehemaligen Sklavinnen erweist sich als schwierig. Man merkt, dass es keine gemeinsame Sprache gibt, ja vielleicht überhaupt keine Gemeinsamkeiten, außer dem Wissen, dass es nicht weitergehen wird wie bisher. Auch der Glaube hilft nicht weiter: Die einstigen Herren sind katholisch, die Afrobrasilianer beschwören ihre eigenen Götter – endlich dürfen sie ihre Religion praktizieren. Mit großer Sensibilität inszenieren die Regisseure Caetano Gotardo und Marco Dutra die Annäherungsversuche zwischen den einst scharf voneinander getrennten Klassen: Die jetzt freien älteren Ex-Sklaven haben Schwierigkeiten, ihre erzwungene Unterwürfigkeit zu überwinden, den Weißen gelingt keine respektvolle Kommunikation. Einmal sitzt die alte Isabel am Fenster und beklagt, dass sie das 20. Jahrhundert, von dem sie sich viel Gutes erhofft, nicht mehr erleben wird.

Als die ehemalige Sklavin Ina zu den drei Frauen gerufen wird, um durch Geisterbeschwörung die Mutter zu heilen, tut sie das nur widerwillig. Sie möchte ihren Glauben nicht instrumentalisieren lassen und damit verraten. Ihrem kleinen Sohn aber gefällt es in diesem Haus. Ina jedoch erklärt ihm Sohn, dass er frei geboren sei und will ihn am liebsten von allem Umgang mit den Weißen abschotten.

An der Schwelle zur Moderne sind die sozialen Verhältnisse ungeklärt, unsicher, und sie bergen jede Menge Sprengstoff. Davon erzählt dieser Film in matten Farben und gedämpftem Licht, der aus Fragmenten, einzelnen Skizzen zusammengesetzt scheint: Ana steht am Zaun und wird von einem Bauarbeiter angesprochen, dem sie kurz darauf das Tor öffnet, hinter dem sie von Mutter und Schwester unter Verschluss gehalten wird. Eine Bekannte kommt zu Besuch, deren Neffe Ana vielleicht gern heiraten möchte. Aber er ist das Kind einer ehemaligen Sklavin, und Ana findet ihn zu dunkelhäutig. Einen Brief des Vaters, in dem er die prekäre finanzielle Lage der Familie darlegt, nimmt Ana ihrer Mutter weg und vergräbt ihn im Garten.

In Todos os mortos geht es um nicht nur um Gender-, sondern auch um ethnische und soziale Fragen. Es geht auch hier um Trauma und Schuld, aber auf einer allgemeineren, gesamtgesellschaftlichen Ebene. Vielleicht ist ja die Häufung von Übersinnlichem im diesjährigen Wettbewerb sogar programmatisch: Wenn immer wieder, wie zur Zeit auf der ganzen Welt, längst überholt geglaubte Ideologien und Narrative virulent werden, dann erscheinen doch mit ihnen die Geister aus vergangenen Dekaden, womöglich sogar Jahrhunderten? Und dann muss es Filme geben, die in die dunklen Ecken schauen und das Unsichtbare, den amorphen Horror thematisieren.

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