Mit „Air“ haben die alten Buddys Ben Affleck und Matt Damon die Genese eines Sportschuhs als klassische amerikanische Underdog-Story verfilmt.
Seit 1989 ist Nike mit Sitz im US-Bundesstaat Oregon der weltweit führende Sportartikelhersteller (vor Adidas, der VF Corporation und Puma); 2021 betrug der Gewinn des Unternehmens mit dem Swoosh-Logo 5,7 Milliarden Dollar. Die Gründe für den Erfolg liegen u. a. darin, dass Nike in den achtziger Jahren – als der familiengeführte Großrivale Adidas in Turbulenzen geriet, verkauft wurde und erst nach einigen Jahren wieder in die Erfolgsspur fand – sich immer stärker als Lifestylemarke etablieren konnte. Ein entscheidender Faktor war die Gewinnung des Basketballers Michael Jordan als Werbeträger. Jordan, Jahrgang 1963, galt bereits in jungen Jahren als Ausnahmetalent und gewann zwischen 1984 und 2003 sechs Meisterschaften, zwei Olympiamedaillen und jede Menge anderer Auszeichnungen – kein Wunder, dass er heute als bester Basketballer der Sportgeschichte gilt. Nike hatte im Orwell-Jahr also den richtigen Riecher und war auch bereit, eine entsprechend hohe Summe (Jordans Mutter Deloris gab in den Verhandlungen den Ton an) hinzublättern. Das Unternehmen verpflichtete Jordan allerdings nicht als rein passives Werbegesicht: Man kreierte rund um den Jungstar einen hippen Basketballschuh bzw. in der Folge eine ganze Schuh- und Outfitkollektion, die für dessen Persönlichkeit stehen sollten. Der Air Jordan mit der Silhouette des „Jumpman“ bescherte Nike einen massiven Umsatzanstieg und trug wesentlich dazu bei, dass Hersteller wie Adidas und Converse überrundet werden konnten – auch heute noch, also beinahe vierzig Jahre später, gehört der Schuh neben Modellen wie dem Adidas Superstar oder dem Converse All Star zu den weltweit berühmtesten Sneakers.
Aus dramaturgischer Sicht mag die von Verhandlungen geprägte Entstehungsgeschichte eines Sportschuhs – zumindest auf den ersten Blick – nicht unbedingt zwingend erscheinen, doch sind die Hintergründe einer Erfolgsstory ja oftmals interessanter als das, was der Öffentlichkeit präsentiert wird. Außerdem bietet der Stoff natürlich genügend Möglichkeiten für eine amerikanische Underdog-Story mit inspirierenden Dialogen und humoristischen Einschüben – und genau diesen Zugang hat Regisseur und Schauspieler Ben Affleck (nach einem Drehbuch von Alex Convery) auch gewählt.
Luftsprünge
Affleck, der seit seinem Langfilm-Regiedebüt Gone Baby Gone (2007) von einem Erfolg zum nächsten geeilt war – und zwar bei Publikum und Kritik –, wurde 2016 durch den Misserfolg des blassen Noir-Dramas Live by Night – bei Publikum und Kritik – eingebremst. Ein geplanter Batman-Solofilm, in dem Affleck Hauptrolle, Drehbuch und Regie hätte übernehmen sollen, zerschlug sich, und so dauerte es sieben Jahre, bis er wieder hinter die Kamera trat. In einem Werk, das von harten Kriminaldramen und ramponierten Figuren geprägt ist, lässt sich Air wohl am ehesten mit Argo (einer der seltsamsten Oscargewinner der letzten Jahre, der geschichtlichen Hintergrund mit Spannungskino und teils humorvoller Selbstbeweihräucherung Hollywoods verband; zur Krönung öffnete First Lady Michelle Obama das Oscarkuvert) vergleichen. Auch hier kommen real existierende Personen vor, auch hier gibt es mehr Humor als in den anderen Filmen und auch hier werden amerikanische Tugenden gefeiert (sucht man nach Vergleichen mit Filmen anderer Regisseure, wäre wohl Bennett Millers Moneyball kein ganz unpassendes Beispiel – ebenfalls ein dialogstarker Sportfilm, in dem der eigentliche Sport kaum zu sehen ist).
Dass Buddy Matt Damon in Air mit dabei ist, an dessen Seite 1997/98 der große Durchbruch erfolgte (Drehbuchoscar für Good Will Hunting), passt jedenfalls ganz gut zu Afflecks Regie-Comeback – und zur Thematik. Denn der mittlerweile 52-jährige Damon scheint sich in letzter Zeit auf Figuren spezialisiert zu haben, die für den „American spirit“ stehen – Underdogs, die hemdsärmelig, mit jeder Menge Fachwissen und von einer Vision getrieben, nahezu Unmögliches erreichen: In The Martian (2015: R: Ridley Scott) etwa kehrte Damon als auf dem Mars zurückgelassener Astronaut unversehrt zur Erde zurück, um am Schluss eine Rede zu halten, deren Moral ungefähr „Nicht jammern, sondern tun“ lautet (es ist also nicht weit zum Nike-Motto). In Ford v. Ferrari (2019, R: James Mangold) war er als Sportwagenkonstrukteur Carroll Shelby zu sehen, der Ford-Wagen für das 24-Stundenrennen von Le Mans fit machen soll, um den mächtigen italienischen Mitbewerber auszustechen – auch hier gab Damon also den Repräsentanten einer real existierenden amerikanischen Firma.
In Air hat Damon die Rolle des Sonny Vaccaro (Jahrgang 1939) übernommen, der für Nike als Mischung aus Talentscout und Marketing Executive fungiert. 1984 ist Nike zwar schon ein erfolgreiches Unternehmen – der Verkaufshit sind Joggingschuhe –, doch die Basketballsparte lässt zu wünschen übrig. Die Platzhirsche Adidas und Converse gelten als cooler und werben die besten Spieler ab. Als Vaccaro eine Archivaufnahme des blutjungen, ebenso unbekümmert wie genial spielenden Michael Jordan sieht, hat er die Vision des großen Nike-Sprungs nach vorn. Leicht ist das Unterfangen natürlich nicht: Vaccaro muss seine ob der großen Geldsummen wenig begeisterten Vorgesetzten überzeugen, die Mitbieter übertrumpfen, Michael Jordans Familie samt Agenten beknien, innerhalb kürzester Zeit einen markanten Schuh-Prototypen vorlegen, und, am allerwichtigsten, an sich selbst und seine große Idee glauben.
Dass Air einen positiven Grundton hat, muss man ihm nicht verübeln, schließlich geht es ja, wie schon angedeutet, um Inspiration und darum, seiner Vision zu folgen („A shoe is just a shoe until someone steps into it“, wie es an mehreren Stellen heißt). Allerdings wirkt der Film dadurch phasenweise wie ein Nike-Werbespot. Die Nike-Schattenseiten – das Unternehmen steht oft wegen skrupelloser Geschäftspraktiken und schlechter Arbeitsbedingungen in der Kritik; dass es wegen des als Statussymbol gehypten Schuhs auch zu Raubüberfällen und Morden kam, ist wohl eher ein gesellschaftliches Problem – werden hier nur ganz zart angedeutet. Aber gut, könnte man meinen, das meiste davon verschärfte sich erst in den Jahren nach 1984, als die großen Firmen immer mehr ihrer Produktionsstätten in Billiglohnländer auslagerten. Jedenfalls hat man am Ende sicherheitshalber jede Menge Texttafeln platziert, die erläutern, welche Summen Nike und die real beteiligten Personen in Charity gesteckt haben. Und auch die inspirierende, mitreißende Rede zum Finale hin fehlt nicht.
Affleck und Drehbuchautor Convery muss man jedenfalls zugutehalten, dass sie aufkommendes Pathos und allzu große Kritiklosigkeit immer wieder durch Humor und ironische Brechungen entschärfen. So wird beispielsweise kurz (und anachronistisch) auf die Ursprünge des erst ab 1988 verwendeten Slogans „Just Do It“ eingegangen: Es handelte sich dabei, leicht abgewandelt, um die letzten Worte des zum Tode verurteilten zweifachen Mörders Gary Gilmore (1940–1977) im Angesicht des Erschießungskommandos.
Eine Reduktion der „message“ darauf, dass Selbstverwirklichung im Kapitalismus keine Grenzen kennt, wenn man nur beim richtigen Schuhhersteller unterschreibt, wird durch solche Einschübe immerhin großteils umschifft. Wenn wir schon bei den Dialogen sind: In den USA hat der inhaltlich harmlose Film ein R-Rating „for language throughout“ erhalten – Jugendliche unter 17 dürfen nur in Begleitung eines Erwachsenen ins Kino, weil sie der Gebrauch des einen oder anderen „fuck you“ sonst traumatisieren könnte.
Aus rein handwerklicher Sicht gibt es bei Affleck-Filmen selten etwas zu mäkeln, und so ist Air erwartungsgemäß gut besetzt: Damon, der hier im Grunde der einzige Hauptdarsteller ist, schlüpft mühelos in die Rolle des übergewichtigen Vaccaro und macht ihn zum sympathischen Visionär. Was die Nebenrollen betrifft, punktet besonders Viola Davis als No-Nonsense-Mutter, die weiß, was sie für ihren Sohn will (dass Michael Jordan für jeden verkauften Air-Schuh einen prozentualen Anteil erhielt, was ihm über die Jahre Milliarden ins Portemonnaie spülte, sollte übrigens zum Präzedenzfall für die gesamte Branche werden). Aber auch Affleck als Nike-CEO Phil Knight spielt großartig und geht stärker als in anderen, minimalistisch angelegten Rollen, aus sich heraus – eine schöne Leistung, auch im komödiantischen Sinn. Dass die Chemie mit Damon in den gemeinsamen Szenen stimmt, ist wohl nicht weiter überraschend. Gute komödiantische Leistungen zeigen auch Matthew Maher, der den Schuhdesigner Peter Moore als liebenswerten Kauz gibt und Chris Messina als fluchender Agent. Dass Michael Jordan in der Filmhandlung selbst nur von hinten gezeigt wird – gegen Ende hin gibt es dann Archivmaterial des echten Sportlers – ist eine dramaturgisch gute Lösung. Was das Production Design betrifft, hat der Film zwar durchaus Achtziger-Flair zu bieten, doch ist Affleck smart genug, den Film nicht zur Ausstattungsorgie verkommen zu lassen. In Sachen Musik kommen großteils zeitgenössische Nummern zum Einsatz, was ja nicht das Schlechteste ist – die Achtziger hatten nunmal die beste Popmusik. Kameramann Robert Richardson verzichtet im Wesentlichen auf visuelle Mätzchen und setzt auf einen realistischen, geerdeten Stil.
Bedenkt man, dass der Outcome von Air fast jedem vertraut sein dürfte und stellt zudem den etwas simplistischen Grundton in Rechnung, wirken 112 Minuten Laufzeit zwar ein Spürchen zu lang (das mehrmalige Wiederholen von Informationen, die man schon aus vorhergehenden Szenen kennt, sorgt für kleinere Redundanzen), doch setzt durch die kompetente Machart und den Humor insgesamt keine Langeweile ein. So mag Air zwar nicht, um den deutschen Titel zu zitieren, der große Wurf geworden sein, doch ein netter kleiner Film über große Ambitionen – sowie ein würdiges Regie-Comeback für Affleck – ist er allemal.