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Crimes of the Future

Crimes of the Future

Körperwelten

| Oliver Stangl |
David Cronenbergs „Crimes of the Future“ verbindet Künstlerdrama mit Body-Horror – und allerlei familiären Themen aus seinem Gesamtwerk.

Legte David Cronenberg früher in ziemlich regelmäßigen, meist zwei- bis dreijährigen Abständen neue Filme vor, so vergingen zwischen Maps to the Stars und dem nun hierzulande anlaufenden Crimes of the Future ganze acht Jahre. Ein Zeichen dafür, wie hart es auf einem von Blockbustern dominierten Markt mittlerweile selbst für einen Altmeister und Kultfilmer geworden ist. Cronenberg-Stammschauspieler Viggo Mortensen meinte 2016 in einem Interview gar, dass der Regisseur ernsthaft überlege, in den Ruhestand zu gehen, da er immer größere Schwierigkeiten habe, seine Werke zu finanzieren.

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Das Projekt hatte es allerdings auch früher nicht unbedingt leicht, denn die Wurzeln von Crimes of the Future liegen bereits in den Nullerjahren: Das Original-Drehbuch war schon 2003 fertig, für die männliche Hauptrolle waren Ralph Fiennes und Nicolas Cage im Gespräch, als Drehort war Kanada vorgesehen. Doch aus diversen Gründen kam die Produktion nicht so richtig auf Schiene, was dazu führte, dass Cronenberg sich anderen Ideen zuwandte und mit der Graphic-Novel-Adaption A History of Violence (2005) einen seiner erfolgreichsten Filme drehte. Vor einigen Jahren nahm sich Cronenberg das Crimes of the Future-Skript schließlich doch wieder vor, fügte kleine Updates ein und konnte letztendlich nicht weniger als neun Produktionsfirmen von einer Zusammenarbeit überzeugen. Gedreht wurde schließlich, wohl auch aus Gründen der Produktionskosten, in Griechenland.

Premiere feierte der Film heuer in Cannes, wo er zwar minutenlange Standing Ovations, aber keinen Preis erhielt. In Nordamerika und Kanada ging der Film an der Kinokasse unter, was für weitere Filme des mittlerweile 79-jährigen Kanadiers wohl nicht unbedingt das beste Omen darstellt. Daher drücken wir an dieser Stelle gleich einmal die Daumen für noch mindestens ein weiteres Werk.

Lust und Schmerz

Cronenbergs Filme waren schon bisher nicht immer leicht zu knacken (bei den Literaturadaptionen halfen Kenntnisse der Werke bzw. der Autoren-Biografien), und auch darüber, wie Crimes of the Future eigentlich genau zu interpretieren ist, sind sich Kritik und Fans bislang nicht einig. Bereits die Inhaltsangabe, die anlässlich des Cannes-Starts veröffentlicht wurde, entwirft nicht unbedingt ein klares, anschauliches Bild: „So wie sich die menschliche Spezies an eine synthetische Umwelt anpasst, erfährt der Körper neue Verwandlungen und Mutationen. Saul Tenser (Viggo Mortensen), ein berühmter Performance-Künstler, stellt mit seiner Partnerin Caprice (Léa Seydoux) die Metamorphose seiner Organe in avantgardistischen Performances öffentlich zur Schau. Timlin (Kristen Stewart), eine Ermittlerin des Nationalen Organregisters, verfolgt obsessiv ihre Bewegungen, als eine mysteriöse Gruppe auftaucht … Ihre Mission: Sauls Berühmtheit zu nutzen, um die nächste Phase der menschlichen Evolution zu erhellen.“

Cronenbergs radikale Visionen lassen sich eben nicht wirklich zufriedenstellend in zwei bis drei Sätzen pitchen. Schmücken wir daher ein paar der Handlungsdetails noch etwas aus: Der Großteil der Menschheit hat evolutionäre Veränderungen durchgemacht. Physischer Schmerz existiert nicht mehr und auch gegen Infektionskrankheiten sind viele immun geworden; herkömmlicher, „alter Sex“ ist für viele kein Vergnügen mehr; Nahrungsaufnahme bereitet nicht allen, aber immer mehr Menschen Sorgen, was durch biomorphe Maschinen wie „BreakFaster“-Sessel (sie rütteln die Sitzenden rhythmisch durch) gelindert werden soll. Tenser, der sich vor Live-Publikum seine ständig neu wachsende Organe entfernen lässt, gerät dabei sowohl ins Visier zweier Untergrundgruppen mit komplexen Motiven als auch der Behörden. Letztere befürchten durch die Evolution (und die Aktivitäten der Untergrundzellen) den Zerfall gesellschaftlicher Normen, sind aber gleichzeitig von Tenser, dessen Körper offenbar beschleunigte Mutationen aufweist, fasziniert.

Dazu kommen noch Subplots, die sich als Reflexion von Umweltzerstörung sowie der menschlichen Anpassung daran sehen lassen: Eine der erwähnten Gruppen (den auch von persönlichen Motiven getriebenen Anführer spielt Scott Speedman) ist in der Lage, Kunststoffe anstatt biologischer Nahrungsmittel zu verdauen. Die von der Gemeinschaft produzierten Nahrungsriegel sind allerdings für andere Menschen tödlich, wie sich überaus drastisch zeigt. Der Mord einer Mutter an ihrem Kind erhält in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Schlüsselrolle.

Wie sich unschwer erkennen lässt, spielt der menschliche Körper auch hier wieder eine zentrale Rolle bei Cronenberg, der ja oft als „Meister des Body-Horror“ tituliert wurde. Doch haben – das durfte man bei allen explodierenden Köpfen oder Mensch-zu-Fliege-Mutationen nie übersehen – psychische Landschaften und (sexuelle, erotische) Obsessionen mindestens genauso große Rollen inne. Und: Die ebenso besessene wie schmerzhafte Kreation von etwas Neuem – sprich: die Genese authentischer Kunst, die in der Welt des Auteurs nie frei von Martern vor sich geht – hat schon einige Cronenberg-Protagonisten beschäftigt. Sei es das William-Burroughs-Alter-Ego William Lee in Naked Lunch (1991), der Unfall-Künstler Vaughan in der Ballard-Verfilmung Crash (1996) oder Software-Entwicklerin Allegra in eXistenZ (1999). Die Kunstgenres erwähnter Protagonisten (Literatur, Happening, Videospiel) fordern nicht nur geistige Anstrengungen, sondern verheißen auch Gefahr für Leib und Leben. Man muss dabei keine gewaltsame Interpretation anstellen, um den Performancekünstler Tenser zumindest ein klein wenig als Selbstporträt des (alternden) „Körperkünstlers“ Cronenberg zu begreifen. Tenser zweifelt stets aufs Neue, ob er sich nochmals ein neues Organ abringen kann.

Schmerz und Lust gehen bei der Kunst Hand in Hand: Der im Kapuzenoutfit durch die Straßen streifende Tenser ist bereit, alles für seine Kunst zu geben – und er ist in der Lage, sowohl geistigen als auch körperlichen Schmerz zu empfinden. Seine Fans, die ihn kultisch verehren, verspüren körperlichen Schmerz dagegen nicht mehr; zugefügte Wunden werden dafür ebenso zum sexuellen Genuss wie die Betrachtung extremer Kunst. Ekstase steht im Mittelpunkt, wenn Cronenberg seine berühmte Videodrome-Sentenz „Long live the new flesh“ zu „Surgery is the new sex“ updatet. Im Zusammenhang mit dem Thema Sinnlichkeit kommen auch hier, wie etwa schon bei eXistenZ, „erfundene“ Körperöffnungen anstelle klassischer Geschlechtsorgane zum Einsatz – für den Regisseur auch eine schelmische Art, die Zensur zu umgehen, wie er schmunzelnd in einem Interview verriet.

Crimes of the Future ist jedenfalls seine intensivste Auseinandersetzung mit dem Schaffensprozess seit Naked Lunch, also seit mehr als 30 Jahren: „I don’t really know when I’m working on something new. Doesn’t seem to be my decision“, sagt Tenser einmal. Der Aspekt des Unterbewussten wird auch von einem Beamten der National Organ Registry angesprochen, der mutmaßt, dass Tenser das Wachstum seiner Organe auf einer tieferen geistigen Ebene steuern kann. Doch erhält das Künstlertum Tensers noch einen Kontrapunkt, der hier aus Spoiler-Gründen nicht verraten werden soll; angedeutet werden kann aber, dass es ein, zwei Parallelen zu Mortensens Rolle in Eastern Promises (2007) gibt.

Körperkunst

Das Ensemble (vor allem Mortensen, Stewart und Seydoux) ist ganz hervorragend – der Großteil agiert so, wie man es von einem Cronenberg-Film erwartet: Bei aller Reduktion nicht wirklich naturalistisch, in einer Art Zwischenstufe aus Minimalismus und Exaltiertheit. Tenser, der unterbewusst nach Wahrheit Suchende, der in der realen Welt ein wenig verloren scheint und durch seine körperlichen Veränderungen unter anderem einen geschädigten Kehlkopf aufweist, wird von Mortensen mit einer faszinierenden Reibeisenstimme ausgestattet, während Seydoux die Rolle der Assistentin mit Ambitionen ebenso sinnlich wie emotional verkörpert. Stewart hat als graues „Beamteninsekt“, das sich die Worte ob großer Nervosität herauspressen muss, den komischen Part über – eine herrliche Nebenrolle, hinter der aber mehr steckt, als auf den ersten Blick ersichtlich ist.

Apropos Humor: Auch den gab es bei Cronenberg schon immer, wenngleich er naturgemäß nicht jedermanns Sache ist. Hier kommt er unter anderem satirisch in jenen Szenen zum Einsatz, in denen Groupies den Kunststar Tenser anhimmeln bzw. von ihm schwärmen; wenn man will, kann man auch Satire auf die Body-Modification-Szene erkennen.

Das „world building“ reiht sich unter die besten Arbeiten Cronenbergs ein: Das Production Design, das irgendwo zwischen analoger Welt und biomorphem High-Tech liegt, spiegelt sowohl eine dystopische Stimmung als auch den Underground-Charakter der Handlung wider (der Großteil spielt in Innenräumen, Katakomben und Brunzbuden). Die abgefuckten Räumlichkeiten der Organ-Beamten haben – wie die Gesamtwelt des Films, die realistisch wirkt, aber durch die bizarren Vorgänge konterkariert wird – dabei aber auch etwas Kafkaeskes, Schwarzhumoriges. Kameramann Douglas Koch taucht die Sets (hier denkt man wiederum besonders an Naked Lunch und eXistenZ) dabei stilvoll in Licht und Schatten.

Selbstredend spielen auch die Props und Effekte rund um die OP-Elemente alle Stückeln: Sei es ein (möglicherweise von Stelarc inspirierter) Performancekünstler, der sich am ganzen Körper Ohren anbringen lässt, seien es die biomorphen Apparaturen, die sexuell konnotiert ins Innere der Künstler eindringen. Die Subplots, die eine Art von minimalistischem (Polit-)Thriller darstellen, mögen auf den ersten Blick nicht immer ganz organisch wirken (no pun intended), bauen aber letztlich eine Brücke zwischen sinnlicher und gesellschaftspolitischer Kunst. In Sachen Kriminalhandlung lässt Cronenberg jedenfalls bewusst einiges offen und fordert so die Kombinationsgabe des Publikums. Überhaupt hat man ob der Vielschichtigkeit der Handlungselemente viel Stoff zum Grübeln – besonders die Schlussszene, in der sich durchaus so etwas wie Hoffnung erkennen lässt, hat bereits so manche Interpretation herausgefordert.

Durch die familiären Elemente kann man Crimes of the Future auch ein wenig als Querschnitt von Cronenbergs bisherigem Schaffen sehen (neben den oben bereits erwähnten Referenzen denkt man natürlich auch an Dead Ringers, in dem Operationen und Kunst ebenfalls in einen Zusammenhang gestellt wurden). Und doch ist der Film für sich wieder eine originäre Geschichte geworden, in deren Welt man fasziniert eintaucht und deren Charaktere einen fesseln. Zudem sind Variationen im Fall eines Auteurs, der sich an lebenslangen Obsessionen abarbeitet, ja auch völlig legitim („Self-plagiarism is style“, so Hitchcock). So enthusiastisch Saul Tensers Kunst von dessen Fans verfolgt wird, so gebannt mag das Kinopublikum David Cronenbergs neueste filmische Kreation betrachten.