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Der Junge mit dem Fahrrad

Le gamin au vélo / Der Junge mit dem Fahrrad

Zorniger Junge und sanfte Fee

| Walter Gasperi |

Sozialdramen ohne viel Hoffnung waren die Filme der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne bisher. In „Le Gamin au vélo“ (Der Junge mit dem Fahrrad) lassen sie nun aber einen von seinem Vater verlassenen Jungen eine gute Fee in Gestalt einer Friseurin finden.

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Die Filme von Jean-Pierre und Luc Dardenne sind unverwechselbar. Mit dokumentarischem Gestus – ihre Herkunft vom Dokumentarfilm ist unübersehbar – fangen sie hautnah die Wirklichkeit ein. In Rosetta, Le Fils oder L’Enfant, ließen sie dem Zuschauer nicht viel Hoffnung, doch ihr letzter Film, Le Silence de Lorna, mündete überraschend in ein märchenhaftes Ende. Die Veränderung, die sich dort mit der Flucht aus der Stadt in den Wald und mit dem erstmaligen Einsatz von Musik andeutete, setzt sich in Le Gamin au vélo fort. Die märchenhafte Komponente des Endes von Lorna durchzieht den ganzen Film, den das Regieduo zunächst sogar „Ein Märchen unserer Zeit“ betiteln wollte. Wiederum intensivieren sie vier Szenen durch Musik, wiederum von Beethoven (in diesem Fall ist es das Adagio des fünften Klavierkonzerts). Nur wenige Akkorde werden dabei angespielt, doch gerade die Reduktion verleiht diesen Momenten bitterer Enttäuschungen besonderen Nachdruck.

Immer noch ist das bei Lüttich gelegene Seraing, die Heimatstadt der Dardennes, der Schauplatz, und immer noch erzählen sie eine kleine Geschichte, die aber zwingend und eindringlich um zentrale und zeitlose menschliche Fragen wie Verantwortung, Enttäuschung, Schuld und Vergebung sowie die Kraft der Menschlichkeit kreist. Erstmals aber spielt ein Dardenne-Film nicht im kalten und farblosen Winter, sondern im Sommer, wodurch nicht nur Helligkeit und Wärme, sondern auch Hoffnung in dieses Sozialdrama kommt. Und erstmals besetzten sie mit Cécile de France eine Hauptrolle mit einem Star. Trotz dieser Veränderungen ist Le Gamin au vélo ein Film, wie ihn im gegenwärtigen Kino nur die belgischen Brüder machen können.

Ohne Exposition werfen sie den Zuschauer unvermittelt ins Geschehen, packen ihn von der ersten Einstellung an und lassen ihn bis zum Ende nicht mehr los. Hautnah ist die Kamera am Gesicht des knapp zwölfjährigen Cyril (Thomas Catoul), der verkrampft einen Telefonhörer in der Hand hält. Er will dem Mann am anderen Ende der Leitung nicht glauben, dass es unter der gewählten Nummer keinen Anschluss gebe. Dass ihn sein Vater (Jérémie Renier) – über den Verbleib der Mutter erfährt man nichts – in ein Kinderheim abgeschoben hat, ist für den Jungen unvorstellbar. Bald haut Cyril ab. Vor einer verschlossenen Wohnungstür muss er schließlich doch erfahren, dass sein Vater bereits vor einem Monat ausgezogen ist. Auf der Flucht vor den Erziehern klammert er sich in einer Arztpraxis verzweifelt an die Friseurin Samantha (Cécile de France), die von der inneren Unruhe und dem Zorn des Jungen zutiefst bewegt ist. Während die Erzieher den Flüchtigen auffordern, die Frau loszulassen, sagt sie nur: „Nicht so fest – das tut weh.“ Auf seine Bitte hin wird sie ihn im Heim besuchen, ihm das geliebte Fahrrad bringen, das nicht gestohlen, sondern vom Vater verkauft wurde. Und bald wird sie den Jungen an den Wochenenden auch zu sich nehmen.

Atemloser Erzählrhythmus

Bei anderen Regisseuren würde so eine Geschichte vermutlich zu einem verlogenen Rührstück, doch die Dardennes inszenieren mit einer Direktheit und einer Unmittelbarkeit, die kein Wenn und Aber zulassen, die jedes Abgleiten ins Sentimentale verhindern und Le Gamin au vélo trotz seines märchenhaften Ansatzes Echtheit und Wahrhaftigkeit verleihen. Mit nervösem Schnitt und unruhiger Handkamera kehren sie die ganze Getriebenheit, die innere Unruhe, Verzweiflung und Aggression dieses Jungen im roten T-Shirt nach außen. So atemlos wie Cyril, der stets zu Fuß oder mit seinem Fahrrad unterwegs ist und wild in die Pedale tritt, ist über weite Strecken der Erzählrhythmus. Zur Ruhe kommen Cyril und damit auch der Film nur bei wenigen Begegnungen, wie bei einem langen Gespräch mit dem Vater, das Kameramann Alain Marcoen in einer virtuosen mehrminütigen Plansequenz einfängt. Als diese Harmonie aber wenig später wieder zerbricht, der Junge dennoch nicht den Glauben an seinen Vater aufgeben wird, kennt dieses hyperenergetische Sozialdrama kein Verweilen mehr. Hier gibt es keine überflüssige Szene und keine Schnörkel, sondern nur ein permanentes Vorwärtsdrängen, das durch große Ellipsen noch verstärkt wird.

Statt zu erklären, beschränken sich die Dardennes aufs Zeigen und Erzählen. Schmucklos und nüchtern wirkt das, doch gerade in der scheinbaren Kunstlosigkeit besteht die Kunstfertigkeit des Films. Beiläufig, aber von größter Prägnanz ist die Einbettung ins Milieu, unsentimental, aber voll Empathie der Blick auf den vom Vater verstoßenen Jungen. Ein Glücksgriff ist die Besetzung dieser Rolle mit Thomas Doret, den die Brüder bei einem öffentlich ausgeschriebenen Casting aus rund hundert Jungen ausgewählt haben. Physisch ungemein präsent, vermittelt er in jeder Einstellung eindringlich die Verzweiflung und Unruhe von Cyril. Den märchenhaften Kontrapunkt dazu bildet die von
Cécile de France ohne Starallüren gespielte Friseurin, die sich bedingungslos hinter ihren Schützling stellt, obwohl sie von diesem mehrfach enttäuscht und betrogen wird. Unfassbar geradezu, wie sie sich nach kurzem Zögern für den Jungen entscheidet, als ihr Freund sie vor die Alternative „er oder ich“ stellt. Durch ihren Einsatz wird das Versagen des verantwortungslosen jungen Vaters aufgefangen, mit dessen Verkörperung Jérémie Renier seine Figur aus L’Enfant variiert. Fortgesetzt werden damit die seit La Promesse die Filme der Dardennes bestimmenden Geschichten um Väter und Mütter, die im Kampf ums eigene materielle Überleben ihre Kinder im Stich lassen. Kein soziales Netz fängt sie in diesen Randzonen der Gesellschaft auf, einzig aus der Menschlichkeit weniger Geschundener und Ausgebeuteter können sie leise Hoffnung und Kraft schöpfen.

Die Menschlichkeit, die bislang in den Dardenne-Filmen immer erst am Ende aufschimmerte, ist in Le Gamin au vélo von Anfang an präsent. Sofort findet der hilflose und orientierungslose Junge in der Friseurin eine starke Beschützerin, die ihm eine Liebe und Fürsorge schenkt, welche ihm vorher nie zuteil wurde. Deshalb kann Cyril damit auch nicht umgehen und bleibt empfänglich für die Verführungskünste eines jungen Dealers. Märchenhaft wirkt es auch, wie der Sicherheit der Wohnsiedlung, in der diese zweite Menschwerdung Cyrils erfolgen könnte, der Wald als ein Ort der dunklen Verlockungen gegenübergestellt wird, doch gleichzeitig hebt der Realismus der Inszenierung wieder alles Märchenhafte auf. Auch dieser Film ist ganz im Hier und Jetzt, in der Tristesse des Lebens sozialer Randgruppen verankert, träumt aber – ähnlich wie zuletzt Aki Kaurismäki in Le Havre – davon, dass ein anderes Leben möglich ist und ein Engel die Chancenlosen aus der Kälte des nackten Überlebenskampfes auf die Sonnenseite des Lebens führt.