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Nightmare Alley

| Hans Langsteiner |
Guillermo del Toros wuchtiger Film-Noir-Thriller im Bigger-Than-Life-Look

Wer auch nur flüchtig mit den Arbeiten des 57-jährigen Mexikaners Guillermo del Toro vertraut ist, weiß: Dieser Mann arbeitet nur im XXL-Format. Sein vorletzter Film Crimson Peak kreiste um ein Spukhaus in Hangar-Größe, und der Regie-Oscar-Gewinner Shape of Water erweiterte das gute alte Amphibienmensch-Thema zum universellen Kunstmärchen. Und derart bigger than life ist auch Del Toros jüngster Film geraten.

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Dabei mag die Wahl des Stoffes bei diesem Regisseur durchaus überraschen. Nightmare Alley entbehrt jeden nicht nur jeden phantastischen Elements, sondern ist überdies auch so etwas wie ein Remake, die Neuverfilmung von William Lindsay Gresham gleichnamigem Roman, der bereits 1947 (deutscher Titel: Der Scharlatan) einmal das Licht der Leinwand erblickt hatte. Doch schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte macht klar, was del Toro daran interessiert haben muss.

Die erste Hälfte des Films spielt in einem bizarren Wanderzirkus zwischen Freaks, Schaustellern und Outcasts. In dieses Milieu gerät ein Glücksritter mit zweifelhafter Vergangenheit, der sich indes rasch zum erfolgreichen Mental-Magier hocharbeitet. Diese Fähigkeit kommt dem Mann auch zugute, als er später samt gut eingespielter Partnerin in einem fashionablen Club in Buffalo auftritt. Und dort lernt er genrekonform eine kühle Blondine kennen, die seinen Ehrgeiz zu wecken weiß und schließlich sein Verderben wird.

Nicht, dass das Thema neu wäre. Der pessimistische Blick auf die menschliche Natur und ihre Abgründe, auf die fatale Gier nach Geld, Sex und Gewalt, hier versetzt mit einer Prise Psychoanalyse für Anfänger, gehört zum Standard-Bausatz der Gattung Film Noir. Doch was Guillermo del Toro daraus macht, hat man so noch nie gesehen.

Schon der erste Teil des Films ist eine Horrorshow für sich: ein Pandämonium der antibürgerlichen Gegenwelt, eingefangen in dunkel gleißenden Bildern von hypnotischer Farbpracht. Und die zweite Hälfte, in der der eigentliche Krimi-Plot Fahrt aufnimmt, bringt das Genre ästhetisch so auf den Punkt, wie es zuletzt vielleicht Orson Welles 1958 in seinem Über-Noir Touch of Evil gelungen war. Das Finale, das jenes der Erstverfilmung an Radikalität und Grausamkeit weit hinter sich lässt, schließt zuletzt den Kreis in einem Ende, das unhappier nicht gedacht werden kann.

All dies wird interpretiert von einer funkelnden All-Star-Besetzung mit Bradley Cooper und Cate Blanchett als brennend intensivem zentralen Paar und Charakterköpfen von Willem Dafoe bis David Strathairn als erlesenem Rahmen. Das noch so junge Kinojahr hat einen ersten Höhepunkt.

 


 

Alles Schreckliche entsteht aus Angst

Oscar-Preisträger Guillermo Del Toro zu „Nightmare Alley”.

Interview – Dieter Oßwald

 

Mister Del Toro, Ihr letzter Film bekam unfassbare dreizehn Oscar-Nominierungen. Bekommt man als König von Hollywood alles Geld der Welt für seinen nächsten Film?
Guillermo Del Toro:
Ich bin jetzt vielleicht kein Außenseiter mehr, aber ich bin noch immer ein Spinner! (Lacht) Als Filmemacher nehme ich grundsätzlich nie den einfachsten Weg, das macht die Sache spannend. Ein Projekt wie dieses ist ausgesprochen ambitioniert, wir erschaffen eine ganz eigene, phantastische Welt. Eigentlich bräuchte man dafür ein Budget von 100 Millionen Dollar, was man natürlich nicht bekommt. Man muss den Film für die Hälfte machen, um die völlige Freiheit zu bewahren. Wer als Regisseur mit seinem Etat zufrieden ist, macht etwas grundlegend falsch. (Lacht)

Wie zufrieden sind Sie als Regisseur mit ihrem Erfolg?
Ich habe Angst vor Erfolg, im Beruf ebenso wie im Leben. Mein nächster Film ist deswegen immer ein Projekt, vor dem ich mich am meisten fürchte. Die Lernkurve kann so aussehen, von einem kleinen Horrorfilm wie The Devil’s Backbone zu einem großen Actionfilm wie Blade II zu wechseln, oder umgekehrt.

Sie gelten als Anwalt der Außenseiter, der Monster und Verlierer. Dieses Mal sieht der Anti-Held zwar attraktiv aus, aber die Figur von Bradley Cooper ist kaum sympathisch, ganz im Gegenteil. Woher kommt dieser Wandel?
Meine Anti-Helden war schon immer attraktive Figuren. Das Böse putzt sich bisweilen ganz besonders schön heraus! Bradley Cooper verfügt neben seinen schauspielerischen Qualitäten über das Aussehen eines klassischen Leinwandhelden der vierziger Jahre. Seine Figur finde ich ausgesprochen bewegend. Man muss diesen Stanton nicht mögen, aber man versteht ihn als gebrochenen Charakter und kann seine Entscheidungen nachvollziehen. Das finde ich weitaus spannender, als jemanden zum reinen Bösewicht zu machen.

Ihr Film ist in elegantem Schwarzweiß gedreht, inhaltlich bevorzugen Sie eher die Grautöne …
Wir leben in einer Welt, in der Erzählung oft sehr simpel ausfallen. Gut und böse sind klar verteilt und einfach zu erkennen. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Wir alle tragen alle Eigenschaften in uns. Um 8 Uhr kannst du ein Heiliger sein. Um 10 Uhr bist du ein Kotzbrocken. Um 13 Uhr bist du ein Held. Um 15 Uhr ein schlechter Vater.

Welche Aktualität sehen Sie für „Nightmare Alley“?
Für mich ist Nightmare Alley eine Bestandaufnahme unserer Zeit, die von einer enormen Angst bestimmt ist. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Lügen verschwinden zunehmend. Wir leben in einer selbstgebauten Echokammer, in der wir nur noch das lesen und hören, was unser bisherige Meinung bestätigt. Zu einer billigen, populistischen Politik gesellt sich ein unstillbarer Hunger nach Mehr. Mehr Erfolg. Mehr Geld. Mehr Clicks. Mehr Follower. Für mein Gefühl findet die Apokalypse bereits statt – wir haben es nur noch nicht kapiert. Ich sehe die Lage der Menschheit ohne Optimismus. Die schrecklichsten Monster sind für mich die Menschen selbst!

Sie erzählen vorzugsweise von Figuren, die anders sind. Gegen alles Andersartige scheint gesellschaftlich ein zunehmender kalter Wind zu wehen. Woher kommt das?
Mit 57 Jahren habe ich noch nicht das Alter eines alten Weisen erreicht. (Lacht) Aber ich bin alt genug, um zu wissen: Wer sich selber hasst, für den sind alle anderen ein Spiegel. Wer sich selber mag, für den sind alle anderen ein Fenster. Alles Schreckliche entsteht aus Angst. Alles Schöne entsteht aus Liebe – das ist das Thema von Nightmare Alley.

Zurück zum Oscar: Sollte man Wetten abschließen auf „Nightmare Alley“?
Ich bin sehr dankbar für meine beiden Oscars. Wenn es dieses Mal eine, keine oder zehn Oscar-Nominierungen gibt, ist mir das alles gleichermaßen recht. Ich bin selbst unglaublich zufrieden mit Nightmare Alley, das ist für mich das schönste Gefühl. Auf alles andere habe ich keinen Einfluss. Für Prognosen hatte ich noch nie ein gutes Händchen. Nach 30 Jahren in diesem Geschäft finde ich am wichtigsten, dass der Film überhaupt entstanden ist.