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I‘m Thinking of Ending Things

Netflix-Film

Roadtrip abseits der Straße

| Maxi Braun |
Lange herbeigesehnt, jetzt endlich auf Netflix: Charlie Kaufmans neue Regiearbeit “I‘m Thinking of Ending Things“ ist das erwartete Kunstwerk mit hohem Kopfkratzfaktor.

Eine Kellertür voller Kratzspuren, ein Hund der sich in Dauerschleife schüttelt, ein Kinderfoto von einem selbst an der Wand eines fremden Hauses. Etwas ist faul in diesem Farmhaus mitten in der US-amerikanischen Einöde, während draußen ein Schneesturm anschwillt und drinnen die Zeit aus den Fugen gerät. In einem Horrorfilm würde im Keller der Killer lauern. In Charlie Kaufmans narrativem Universum ist die Sache komplizierter. Der Drehbuchautor von Filmen wie Being John Malkovich oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind arbeitet seit 2008 selbst als Regisseur. 2015 gewann sein Stop-Motion-Thriller Anomalisa als erster animierter Film den Großen Preis der Jury in Venedig. Aktuell ist I‘m Thinking of Ending Things, Kaufmans Adaption von Ian Reids gleichnamigen Romans, auf Netflix zu sehen.

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Die Story ist schnell zusammengefasst: Lucy (Jessie Buckley) bricht mit ihrem relativ neuen Freund Jake (Jesse Plemons) zu einem Besuch bei seinen Eltern auf, die sie zum ersten Mal treffen soll. Dabei treibt sie der zwanghafte Gedanke um, mit ihm Schluss zu machen. Lucy wird durch innere Monologe als Erzählinstanz eingeführt. Aber wo, wann oder in wessen Verstand sich der Plot entfaltet, bleibt unklar. Denn auf nichts innerhalb der Diegese ist Verlass, nicht einmal auf den linearen Verlauf der Zeit. Zwischendurch springt die Handlung ohne zunächst erkennbaren Bezug zu einem Highschool-Hausmeister im Nachtdienst.

Ein Großteil der Erzählzeit spielt auf der Fahrt durch das Schneegestöber im Auto. Das 4:3-Format lässt den Innenraum besonders kompakt erscheinen und verstärkt die Kammerspielatmosphäre, die sich im Farmhaus fortsetzt. Jessie Buckley und Jesse Plemons gelingt es, dass die Sympathie wie in einem Vexierbild zwischen den Figuren hin- und herspringt und diese dadurch ambivalent und unberechenbar bleiben. Toni Colette und David Thewlis heben in ihrer Darstellung von Jakes Eltern Verschrobenheit auf eine neue Stufe. Die Dialoge, prall mit popkulturellen Referenzen gespickt, tragen weiter zur Verwirrung bei. Jede Anspielung, jede Mikroexpression, jede kunstvoll komponierte Einstellung ist mit einem Versprechen von Bedeutung aufgeladen, das nicht unbedingt eingelöst wird.

Kaufman präsentiert mit I‘m Thinking of Ending Things eine Geschichte, die keine sein will. Während beim Lesen eines Romans unser Verstand die dazugehörigen Bilder ergänzt, ist hier das Publikum in der Pflicht, sich selbst einen Reim auf die Story zu machen. Ob es dabei um Lucy, den Hausmeister oder doch um eine Liebesgeschichte geht, ist letztlich egal. Was anstrengend klingt, kann unheimlich befreiend sein, wenn wir uns darauf einlassen, gemeinsam mit den Figuren die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren.