Eine Miniserie, die alles richtig macht: Die mitreißende Geschichte um eine US-amerikanische Schachvirtuosin der sechziger Jahre ist in jeder Hinsicht ein Triumph.
Wer sagt, dass der Serienboom vorbei sei, irrt. Zumindest jedenfalls im Bereich der Miniserien, also der auf eine abgeschlossene Staffel beschränkten Erzählungen, entsteht nach wie vor Großes, wie, um nur zwei Beispiele zu nennen, vor nicht allzu langer Zeit Mike Flanagans The Haunting of Hill House oder die wohl beste Stephen-King-Adaption ever, The Outsider. Der aktuelle Netflix-Quoten-Hit The Queen’s Gambit ist ein Musterbeispiel, wie man in schlappen sieben Stunden selbst aus einer vermeintlich „unfilmischen“ Betätigung wie Schach eine rundum gelungene, viele Jahre umspannende packende Story mit großartigen Charakteren, mitreißender Musik und tollem Zeit- und Lokalkolorit machen kann. Dass die Miniserie inzwischen einen neuen Schach-Boom ausgelöst hat, kann da nicht verwundern.
Schaut man sich die Credits näher an, dann wird der Erfolg umso mehr verständlich: Scott Frank, einer der beiden Creators, hat nicht nur eine äußerst respektable Werkliste an Filmdrehbüchern zu bieten – für zwei davon, Out of Sight (1998) und Logan (2017), wurde er für einen Oscar nominiert –, er hat vor allem die großartige, wenngleich ein wenig untergangene Western-Miniserie Godless (2017) geschaffen, geschrieben und bei allen sieben Episoden Regie geführt. Man kann ohne weiteres sagen, dass sich Godless nahtlos in die große US-amerikanische Westerntradition einreiht und neben vielen anderen Verdiensten auch dieses hat: dass vor allem Frauen darin die Hauptfiguren sind – das allein schon deswegen, weil fast alle Männer der Kleinstadt, um die es geht, bei einem Minen-Unglück ums Leben gekommen sind. Michelle Dockery (Downton Abbey) und Merritt Wever (Unbelievable), beide ohnehin mit großen Serien-Verdiensten, spielen die Hauptrollen, und dass der ansonsten so liebenswerte Jeff Daniels (Dumb & Dumber) hier sichtlich lustvoll den sadistischen Oberbösewicht spielt, macht die Sache noch reizvoller.
Die Vorlage zu The Queen’s Gambit stammt von keinem Geringeren als Walter Tevis (1928–1984), dessen Romane „The Hustler“ und „The Color of Money“ von Robert Rossen bzw. Martin Scorsese zu Kultfilmen verarbeitet wurden – ebenso wie „The Man Who Fell to Earth“, den Nicolas Roeg mit David Bowie in der Hauptrolle verfilmte. So wie Eddie Felson, der Protagonist von „The Hustler“, im Film von 1962 unvergleich dargestellt von Paul Newman, ein Billard-Besessener ist, so wird aus dem zu Beginn von The Queen’s Gambit achtjährigen Waisenkind Beth Harmon (zunächst von Isla Johnston, als junge Erwachsene von der grandiosen 24-jährigen Amerikanerin Anya Taylor-Joy gespielt) eine Schachmeisterin. Sie lebt und atmet Schach – von dem Moment an, als der Hausmeister des Waisenhauses, Mr. Shaibel (Bill Camp), ihre Neugier in die richtigen Bahnen lenkt und zu einem strengen, aber gerechten Lehrmeister wird. Warum Beth im Waisenhaus landet, wird zu Beginn nur angedeutet und erst später aufgelöst; Tatsache ist, dass sie außer Mr. Shaibel und der nach außen hin aufsässigen, aber in Wirklichkeit gutmütigen Afroamerikanerin Jolene keine Bezugspersonen hat.
Das ändert sich, als sie mit 15 Jahren von einem Ehepaar aus Lexington, Kentucky, adoptiert wird, das zuvor ein Kind verloren hat. Doch während sich Mr. Wheatley bald in Richtung einer anderen Dame verabschiedet, wird seine Frau Alma (Marielle Heller) allmählich zum Mutter- und Freundinnen-Ersatz für Beth, die mit den Provinz-Highschool-Queens ihres Alters nichts anfangen kann. Es ist das Alter, in dem sie erste lokale Schachturniere bestreitet, wie in den sechziger Jahren (oder auch heute?) nicht anders zu erwarten, misstrauisch beäugt von der anwesenden Männerwelt. Ihr Aufstieg ist ebenso rasant wie fulminant inszeniert – selten wurde Schach so dynamisch und sinnlich dargestellt, wenngleich die eine oder andere Animation dann doch ein wenig zu viel des Guten ist. Wenn sie nicht gerade reihenweise Männer aus dem Feld schlägt, pflegt sie die eine oder andere ungesunde Gewohnheit, meist zusammen mit ihrer Adoptivmutter, vor allem aber studiert sie Schachbücher, analysiert historische Partien und spielt sie nach. Ihre seltenen One-Night-Stands sind eher von der unerquicklichen Sorte, ihre Freundschaften zu einigen der jungen Männer aus dem Schachumfeld dafür umso ergiebiger und dauerhafter.
Als eines Tages die erwachsene Jolene in Beths Leben (wieder)auftaucht, um ihr mitzuteilen, dass Mr. Shaibel verstorben sei, folgt die unvermeidliche, schmerzhafte Reise in die eigene Vergangenheit. Die Leere in ihrem Leben abseits der Schachtische wächst hingegen, und nach einer bitteren Niederlage gegen der sowjetischen Großmeister Vasily Borgov (Marcin Dorociński) droht Beth der endgültige Absturz. Dass sie beim prestigeträchtigen Einladungsturnier in Moskau antreten wird, ist längere Zeit gar nicht sicher.
Während die Geschichte eher schnörkellos und weitgehend chronologisch erzählt wird, ohne allzu komplex zu werden, hat man ganz viel Liebe und Aufmerksamkeit in Zeit- und Lokalkolorit investiert. Die fabelhaften Kostüme und die Ausstattungsgegenstände, die Interieurs in den Hotels, an den Veranstaltungsorten und nicht zuletzt in Beths und Almas Haus atmen den Geist der sechziger Jahre, ebenso wie die spektakulären Autos der Zeit. Beim Soundtrack – von den Kinks über Herman’s Hermits und Martha and the Vandellas bis hin zu Shocking Blue – hat man offenbar keine Kosten gescheut, und die durchwegs stimmigen Locations mit intaktem Sixties-Look und -Feeling hat man zum überwiegenden Teil in (Ost-)Berlin gefunden.
Der gesamte Cast (einige, wie den charismatischen Thomas Brodie-Sangster, hat Scott Frank aus Godless gleich „mitgebracht“) überzeugt vollständig. Und für Anya Taylor-Joy, die in fast allen Szenen, jedenfalls ab der zweiten Episode zu sehen ist und alle Höhen- und Tiefflüge ihrer Figur mit Bravour meistert, ist die Serie sowieso ein verdienter Triumph.