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Türkei – Instanbuler Impressionen

Instanbuler Impressionen

| Daniela Sannwald |

Das jährlich im April stattfindende Internationale Filmfestival von Istanbul versammelte auch heuer eine Reihe türkischer Produktionen, die hoffentlich ihren Weg nach Westen finden.

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Gerard Depardieu war zum ersten Mal in Istanbul, als er freitagabends für einige Stunden zur Abschlussgala des Filmfestivals anreiste. Aber der französische Star ist trendresistent: Istanbul gehört seit ein paar Jahren zu den beliebtesten Reisezielen der Welt. Anders als zur Zeit der ersten großen Istanbul-Reisewelle um 1900 sind es jedoch nicht mehr nur hoch gebildete, kosmopolitische Orientsüchtige, die sich in der 12-Millionen-Metropole verlieren, sondern vor allem Studenten und junge Berufstätige Ende zwanzig. Die allerdings suchen eher das Bekannte: Clubleben, Partys, Cafés und Shopping mit einem Schuss Exotik.

Das touristische Leben konzentriert sich auf den Stadtteil Beyoglu und die Einkaufsstraße Istiklal mit ihren Nebengassen: Hier findet man Filialen der internationalen Mode-, Kaffee- und Hamburgerketten, Geschäftspassagen, Märkte und sehr wenige Einzelhändler alten Stils, gerade genug, um jenen Schuss Fremdartigkeit zu garantieren, nach dem die Touristen suchen.

Doch nicht nur der Tourismus, auch das Istanbuler Filmfestival, das im April zum 25. Mal stattfand, hat sich perfekt auf die Bedürfnisse der ausländischen Gäste eingestellt: Fünf der sechs Festivalkinos sind auf den einen Quadratkilometer Istiklal-Straße verteilt, nur eines befindet sich auf der asiatischen Seite, jenseits des Bosporus. Und wie zur Bestätigung drehten die meisten türkischen Filmemacher der jüngeren Generation ihre Filme in dem quirligen, internationalen, auch kulturellen Zentrum der Stadt. Die Festivalbesucher fanden in den einheimischen Produktionen auf der Leinwand das bestätigt, was sie auf dem Weg zum Kino sahen und umgekehrt. Anlat Istanbul (Istanbul, erzähl mir), der Gewinner des letzten Festivals, brachte diesen Trend auf den Punkt: Fünf Regisseure der jüngeren Generation inszenierten jeweils eine Episode der Beyoglu-Saga, die vor allem von der Attraktivität der Schauplätze profitiert und von dem bunten Menschengewimmel, das dort zwanzig Stunden am Tag anzutreffen ist.

Eiskrem und Exploitation

Heuer setzten die einheimischen Filmemacher andere Schwerpunkte: Vier der neuen türkischen Filme sind im äußersten Westen der Türkei an der ägäischen Küste gedreht: Geschichten aus der Provinz von Tradition und Religion, Kindern und Tieren. Das Bildungs-, Wohlstands- und Glaubensgefälle zwischen Stadt und Land ist riesig, selbst in die touristisch erschlossene Ägäis-Region scheint die Modernisierung nur langsam Einzug zu halten, auch wenn der Eismann in der Komödie Dondur-mam Gaymak (Ice Cream, I Scream) andere Befürchtungen hegt: Er sieht sich von Eis-am-Stiel-Verkäufern umstellt und verdächtigt deren Lieferanten, sein Motorrad nebst Eiswagen gestohlen zu haben. Der Regisseur Yüksel Aksu hat in allen Rollen Bewohner der Stadt Mugla besetzt und besonders die bei seinem Thema unvermeidlichen vielen Kinder zu erstaunlichen Leistungen geführt: Sie spielen weit unbefangener als die erwachsenen Laien und sind damit die Hauptagenten der heiteren, leichten Sommerferienstimmung des Films.

Ganz im Gegensatz dazu steht der ebenfalls an der türkischen Westküste gedrehte Gewinner des nationalen Wettbewerbs, Reha Erdems Film 5 Vakit (5 Times). Der Titel bezieht sich auf die fünf Gebetszeiten, die den Tageslauf der gläubigen Muslime strukturieren und bestimmen. Ein Mädchen und zwei Jungen in der Vorpubertät sind die Protagonisten des Films; sie haben mit den üblichen Problemen des Erwachsenwerdens zu kämpfen, jedoch gleichzeitig mehr und weniger Freiheit als Stadtkinder: Weil es keine weltlichen Gefährdungen gibt, können sie unbeaufsichtigt durch die Landschaft streifen, aber sie wissen, dass die Religion ihnen strenge Pflichten auferlegt. Reha Erdem arrangiert die Kinder zwischen Bäumen, verlassenen Gebäuden und Schafherden zu Tableaus im Breitwandformat; totale Aufsichten – wie als göttlicher Blick – zeigen die drei flach auf den Boden gepresst unter dem Druck, der auf ihnen lastet. Die Farben sind nicht wie in Aksus Komödie schreiend bunt, sondern ausgebleicht, die Landschaft wirkt trocken und karg, das Meer sieht man nur aus der Ferne. Einzig das dünne, spitze Minarett der Moschee erhebt sich mit fast aggressiver Eleganz über die geduckten Häuser und Menschen.

Der Überraschungserfolg des letzten Jahres war das inzwischen auch in den türkischen Zentren Westeuropas angelaufene Generationendrama Babam ve Oglum (Mein Vater, mein Sohn) des jungen Regisseurs Cagan Irmak. 3,7 Millionen Zuschauer haben diesen Film seit seinem Start im letzten Dezember gesehen, ohne dass er mit nennenswertem Werbebudget ausgestattet war; nur durch Mundpropaganda stieg die Anzahl der Filmbesucher kontinuierlich. Dass der Film auf dem Festival den Publikumspreis gewann, bestätigt ein weiteres Mal die Anziehungskraft von Melodramen: Wer nicht weint, wenn der alte Mann um seinen früher verstoßenen und jetzt sterbenden Sohn trauert, hat ein Herz aus Stein. Die Geschichte dieses Sohnes, der nach dem Militärputsch im Jahr 1980 als linker Journalist verhaftet und gefoltert wurde, ist ein Teil der türkischen jüngeren Vergangenheit, die Generation der um 1960 geborenen Intellektuellen hat traumatische Erfahrungen gemacht, die aber filmisch bisher kaum aufgearbeitet wurden. Babam ve Oglum könnte – auch wenn ihn ein viel jüngerer Regisseur inszeniert hat und die Politik nicht im Zentrum steht – den Startschuss für eine solche Auseinandersetzung geben. Ein anderer Ausflug in den Genrefilm ist Mustafa Altıoklars Beyza’nın Kadınları (Shattered Soul), eine Mischung aus Psychothriller und Splatterfilm, wiederum in Istanbul gedreht: Abgeschnittene Beine werden aus dem Bosporus gefischt, und die Polizei sucht nach einem Serienmörder, dessen Opfer eine Gemeinsamkeit aufweisen: Sie haben Kinder missbraucht. Der Film ist ästhetisch ambitioniert, aber misslungen. Splitscreen, Farbfilter, ausgefallene Kameraperspektiven und absurde Requisiten werden willkürlich, aber großzügig verwendet, ein ästhetisches Konzept jedoch ist nicht zu erkennen. Und die bekannten Ansichten von Istanbul sind als bunte Postkarten planlos über den Film verstreut: noch Exploitation oder schon Missbrauch?

Tradition und Selbstbewusstsein

Zur Feier seines 25-jährigen Bestehens zeigte das Festival eine Retrospektive herausragender türkischer Filme seit 1982, ergänzt durch ein Tribute für Erden Kıral, der 1983 mit Hakkari’de bir Mevsim (Eine Saison in Hakkari) weltweit Aufsehen erregte. In seiner Inszenierung findet sich die Kargheit der anatolischen Bergregion um das titelgebende Dorf herum wieder, unterstreicht die erschütternde Armut seiner Bewohner. Das ländliche anatolische Leben haben mehrere Regisseure der 80er Jahre thematisiert, mitunter geht es ihnen um die Unvereinbarkeit von traditionellem und modernem Leben, so in Zügürt Aga (The Aga) von Nesli Çölgeçen. Darin spielt einer der beliebtesten türkischen Schauspieler, Sener Sen, einen verarmten Großgrundbesitzer, den es schließlich nach Istanbul verschlägt. Aufgewachsen in einem feudalen System, das auf Ehre, Fürsorge und Gerechtigkeit basiert, kann er in der Großstadt nicht bestehen, immer kümmerlicher fristet er sein Auskommen. Schließlich ist es eine junge Frau, die ihn vor dem Verhungern rettet.

Einen Blick auf die unbekannteren Seiten Istanbuls wirft Iki Genc Kiz (Two Girls) des international bereits etablierten Regisseurs Kutlug Ataman (Lola und Bilidikid). Das ästhetisch radikale Porträt zweier wütender weiblicher Teenager spielt zwischen den kleinbürgerlichen Siebziger-Jahre-Hochhausvierteln im äußersten Westen der Stadt und den Villen der Neureichen am Bosporusufer, wird untermalt von den Orient-Punk-Klängen der Kultband Replikas und zeigt die um Unabhängigkeit kämpfenden Mädchen zwischen Verzweiflung und Selbstbewusstsein: Ihre Verfassung ähnelt der der türkischen Gesellschaft insgesamt.

Dass nach wie vor nur wenige türkische Filme abseits internationaler Filmfestivals ihren Weg aus der Türkei herausfinden, ist mehr als schade. Sie könnten das Türkei-Bild der Westeuropäer, das hauptsächlich von den konservativen, nicht integrierten Migranten einerseits und den geschäftstüchtigen Händlern und Gastronomen um Antalya andererseits bestimmt ist, entscheidend verändern.