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Vom Umgang mit dem Tod

| Benjamin Moldenhauer |
Dass die Eltern sterben, ist Standard in zahlreichen Disney-Filmen. Führt man sich das selbstverständlich gewordene Stereotyp in Ruhe vor Augen, kommt man schnell zu der Frage: warum eigentlich? Und ob die Inszenierung der Todesszenen nicht doch zu problematisieren wäre.

Eltern machen es in den Disney-Filmen meist nicht lange. Der kleine Dinosaurier Arlo jagt in Arlo & Spot mit seinem Vater einen Menschenjungen, der der Familie das Essen stiehlt, ein Flussufer entlang. Sie werden vom Hochwasser überrascht, der Vater ertrinkt im brausenden Getöse. Arlo kann sich retten, mit letzter Kraft, und ist von da an Halbwaise. Ein paar Filmminuten später fällt er selbst in den Fluss und muss den Weg zurück zu seiner Mutter finden.

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Wer in seinem Leben schon ein paar Disney-Filme gesehen hat, weiß, dass die Väter und Mütter hier massiv gefährdet sind, und ist auf alles vorbereitet. Zum Beispiel Der König der Löwen: Der kleine Löwe Simba muss mitansehen, wie sein Vater von Simbas Onkel in einen Hinterhalt gelockt und in der Folge von einer Herde Gnus niedergetrampelt wird. Simba fühlt sich schuldig, flieht und muss den Weg zurück zu seiner Mutter finden.

Auch nur rudimentär filmerfahrene Kinder schnallen schnell, wie der Hase beziehungsweise das jeweilige Tier läuft. Schließlich stehen die toten Eltern am Ende des ersten Filmaktes in einer langen, langen Tradition bei Disney. Bereits die Mutter von Bambi wurde im gleichnamigen Film von 1942 getötet, erschossen von einem Jäger, wenn ich das richtig erinnere. Und wenn einem die lange Reihe toter Erziehungsberechtigter redundant vorkommt, kein Problem, es gibt auch Variationen. In Disneys Tarzan beispielsweise sterben die Eltern gleich am Anfang, als Plot-Prämisse. In Findet Nemo auch, zumindest die Mutter.

In mehr als der Hälfte der Disney-Filme müssen die Protagonistinnen und Protagonisten mit nur einem oder gar keinem Elternteil auskommen. Woher kommt diese Ausdauer? Die einfachste Erklärung ist: Es wirkt, weil es ballert. Man stelle sich ein Publikum von Sechs- bis Achtjährigen vor, für die die Filmemacher mit einfachen Mitteln eine emotionale Bindung zu den vermenschlichten Tierfiguren auf der Leinwand herstellen: Immer geht es um Figuren, die ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden haben, und um Eltern/Kind-Konflikte, in denen man sich wiedererkennt. Dann mangelt man die Mutter- oder die Vaterfigur über, mit aller Wucht. In Bambi fand der Tod der Mutter noch im Off statt, in allen anderen genannten Filmen wird er so affektintensiv inszeniert, wie es angesichts des anvisierten Zielpublikums gerade noch zulässig ist.

Gerade wer viele dieser Filme sieht, kann irgendwann mit Aversion auf das Elternsterben reagieren. Immer wird der gleiche Knopf gedrückt, Schock und Tränendrüse, und das mit einer ziemlich ausgeprägten inszenatorischen Gewalt. Die einander ähnelnden filmischen Mittel sorgen für Redundanz: Dröhnmusik, erhöhter Schnittrhythmus, volle Kanne die riesengroßen Augen der entsetzten Tierkinder in den Fokus nehmen. Eine Art konfektionierter Schrecken.

Da kommen wir drauf zurück. Wichtig aber ist zuerst, daran zu erinnern, dass das Stereotyp (oder in einem alltagssprachlichen Sinne freundlicher formuliert: das Motiv) der toten Väter und Mütter in einer langen literarischen Tradition steht, in der die Tötung oder zumindest die Abwesenheit der Eltern eine wichtige narrative Funktion übernimmt. Die Verlassenheitserfahrung prägt die meisten der Klassiker der Kinderliteratur, von Pippi Langstrumpf, Peter Pan und Harry Potter. Sie hat unter anderem auch die Aufgabe, den Zustand der Elternferne herzustellen, der wiederum Voraussetzung für die Heldenreise ist, von der die Erzählung handelt. Das gilt für viele, vielleicht sogar den überwiegenden Teil der Klassiker der Kinderliteratur.

Somit wären der tote Vater, die tote Mutter erst einmal nur eine konventionalisierte Möglichkeit, um für den Protagonisten den Zustand der Elternferne herbeizuführen. So weit, so gut, und es gilt auch hier, was generell für den Kinderfilm gilt: Wenn die Kinder es lieben, kann es so schlecht nicht sein. Oder zumindest nicht nur schlecht.

Trotzdem bleibt bei mir ein Unbehagen, in das sich sicherlich elterliche Sorge und Ärger über allzu vorhersehbare kulturindustrielle Standards mischen. Dieses Unbehagen hat vor allem mit der allzu offensichtlichen und in gewisser Weise manipulativen intendierten Emotionslenkung der jungen Zuschauer zu tun. Manipuliert wird man im Kino, wenn der Film einen denn packt, immer, das soll auch so sein. Was einem ungut ins Auge springt, wenn man die entsprechenden Disney-Filme einmal in kurzer Folge hintereinander schaut, sind standardisierten Inszenierungen, die das Publikum zu überwältigen suchen.

Da stellt sich allerdings die Frage, ob diese Inszenierung des Stereotyps der toten Eltern nicht nur ein Anzeichen von filmischer Ideenlosigkeit, sondern auch ein Anzeichen der Respektlosigkeit gegenüber dem Publikum ist. Respektlosigkeit heißt: Man suggeriert eine intensive, krasse Erfahrung, maximales Drama, aber die Repitivität, mit der die immer gleichen inszenatorischen Standards abgerufen werden, lässt das ganze beim seriellen Schauen lieb- und achtlos erscheinen. Als ginge es nur darum, das kindliche Publikum weichzuklopfen – sei es gleich zu Beginn des Films, wie bei Findet Nemo, in dem die Mutter in den ersten Minuten von einem Raubfisch gefressen wird, sei es am Ende des ersten Aktes.

Dabei geht es nicht um den Vorwurf der emotionalen Überforderung. Kinderfilme dürfen ruhig fordernd sein. Zu den besten Kinderfilmen der vergangenen Jahre gehören jene, die Konflikte, Verlust und Schmerz in einer ästhetisch und narrativ anspruchsvollen Weise erzählen. Coco zum Beispiel, auch von Disney/Pixar, erzählt in einer sehr komplexen Weise von Familienbindungen, Erwartungen und Verlust, von Versöhnung, Heilung und dem Versuch, den eigenen Willen gegen die eigenen Eltern durchzusetzen und sich zu behaupten. Letzterer Punkt spielt übrigens bei allen genannten Filmen eine Rolle: der Widerstand gegen die Eltern, die den Kindern den elterlichen Willen aufzwingen wollen. Insofern haben die toten Eltern oft auch etwas von einem unterschwelligen Racheakt, verbunden mit dem dazugehörigen Schuld-Phantasma. Das trägt zum Eindruck des latent Manipulativen, den die entsprechenden Szenen hinterlassen, noch bei.

Aber zurück zu Coco: Dem Film gelingt es, vom Tod zu erzählen, ohne dass die Bilder stereotyp in einem schlechten Sinne wirken würden. Die Vorhersehbarkeit der immer gleichen Inszenierungsmittel nimmt dem Sterben in den Disney-Filmen zumeist das Individuelle. Hier nicht. Die Erfahrung mit dem Tod erschöpft sich nicht im Gimmickhaften, sondern schließt an eine kindliche Erfahrung (den Abschied von der Großmutter in diesem Fall) wirklich an, an eine affektive Wirklichkeit, und das in einer Weise, die es einem erlaubt, sich mit den Bildern zu verbinden und sich nicht nur von ihnen beeindrucken oder gar überwältigen zu lassen.

Es ist also keine Frage der Quantität, im Sinne von Heftigkeit. Es ist eine Frage, ob der Film die Bilder der sterbenden Eltern (oder Großeltern, wie im Fall von Coco) als effektiven Baustein verwendet, oder als Sujet, das er selbst ernst nimmt. Was wiederum ein Indiz in der Klärung der Frage sein könnte, ob ein Kinderfilm seine Zuschauer nur als zahlungskräftige Masse versteht. Oder als Versammlung von Individuen, die es gilt, im Kinosaal in einer gemeinsamen ästhetischen Erfahrung zu einem wirklichen Publikum werden zu lassen.