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Jan-Ole Gerster - Lara

Lara | Interview

Die Klugheit der Frauen

| Kirsten Liese |
Jan-Ole Gerster im Interview über seinen Film „Lara“, über seine Zusammenarbeit mit Corinna Harfouch, über das rumänische Kino und über Tom Schillings Klavierkünste.

Mit seinem vielfach ausgezeichneten Erstling Oh Boy, einem Film in Schwarzweiß um einen sich einen Tag und eine Nacht durch Berlin treiben lassenden Studienabbrecher, gelang Jan-Ole Gerster auf Anhieb ein Meisterstück. Sein zweiter Film Lara ist ein weiteres von hohem Anspruch getragenes Werk, das in Karlovy Vary verdient den Spezialpreis der Jury sowie den Preis für Corinna Harfouch als bester Hauptdarstellerin und den Preis der Ökumenischen Jury gewann. Auf dem Filmfest in München kamen noch ein Förderpreis Regie und der Fipresci-Kritikerpreis dazu. Die Titelheldin ist eine charismatische Frau und dominante Mutter, die ihre eigenen hohen, unerfüllt gebliebenen künstlerischen Ansprüche auf ihren Sohn überträgt.  Für ein Klavierrecital ihres Sohnes an ihrem 60. Geburtstag kauft Lara sämtliche Restkarten auf, um sie an ehemalige Arbeitskollegen, Bekannte, ihren Klavierlehrer aus Jugendzeiten und Passanten zu schenken, und diese zu ermuntern, das Konzert zu besuchen. Ihre Fürsorglichkeit erfährt jedoch Risse. Kollegen beschreiben sie als kalt und unbeliebt, der Ex-Ehemann als gnadenlos und übertrieben ehrgeizig. Die unterschiedlichen Facetten dieser Persönlichkeit ergeben ein höchst geheimnisvolles Psychogramm. Eine singuläre Qualität gibt dem Film zudem Gersters Kennerschaft des klassischen Konzertlebens, die zahlreiche andere, in Musikerkreisen angesiedelte Filme schmerzlich vermissen lassen.

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Ihr zweiter Film wirkt wie zugeschnitten auf Corinna Harfouch. Inwiefern hat Sie die Schauspielerin, die wir schon lange nicht mehr in so einer dankbaren Rolle gesehen haben, zu dieser Geschichte inspiriert?
Jan-Ole Gerster:
Ich kenne Corinna Harfouch seit Jahrzehnten aus Film und Fernsehen. Als ich sie in Tschechows „Möwe“ im Deutschen Theater in Berlin erlebte, fühlte ich mich regelrecht erleuchtet. Fortan überlegte ich händeringend, was ich ihr anbieten könnte. Einige Jahre später lernte ich den slowenischen Autor Blaž Kutin kennen. Er erwähnte ein Drehbuch, das er schon vor zehn Jahren geschrieben hatte, und das – wiewohl es schon einen Preis gewonnen hatte – noch nicht verfilmt worden war. Neugierig bat ich um ein Exemplar. Beim Lesen versetzte mich das Drehbuch in einen anderen Zustand. Ich war danach ganz still und angegriffen und wollte wissen, warum mich das so berührt und was die Geschichte mit mir zu tun hat. Zugleich hatte ich endlich den Film für Corinna gefunden.

Was interessiert Sie an der Figur der Lara?
Jan-Ole Gerster: Hinter niederträchtig erscheinenden Verhaltensweisen verbergen sich oft großer Schmerz oder vehemente Enttäuschungen. Das Drehbuch legt den Schmerz auf sehr subtile Art nach und nach offen. Darüber hinaus bin ich sehr interessiert an Menschen mit einer ausgeprägten Leidenschaft, im Fall von Lara ist es die klassische Musik. Ich konnte mit ihrer Entscheidung, dem Klavierspiel, das sie über alles liebt, den Rücken zuzukehren, viel anfangen, hatte ich doch ähnliche Empfindungen in der Filmhochschule: Professoren sind mitunter sehr einflussreiche Personen in so einer jungen Karriere, und ich hatte ähnliche Gespräche wie Lara, die im Film noch einmal ihren alten Klavierlehrer trifft. Ich war besessen von dem Wunsch, Regisseur zu sein, hatte aber gleichzeitig so viel Respekt vor der Aufgabe, dass ich auch ein bisschen Angst hatte, einen womöglich schlechten Film zu machen, der sich als Erfahrung in mir festsetzen könnte. Ich wollte im Grunde meine Leidenschaft und meine Liebe für das Kino dadurch schützen, dass ich nie einen Film mache.

Jan-Ole Gerster - LaraWie hat Corinna Harfouch Ihre Anfrage aufgenommen?
Jan-Ole Gerster: Unsere erste Begegnung war sofort getragen von einem großen Vertrauen. Ich war sehr aufgeregt, sie zu treffen. Daraus entwickelte sich die vielleicht bislang schönste künstlerische Zusammenarbeit für mich. Die Arbeit mit Corinna war ungemein inspirierend, und ich glaube, dass sie mich ein Stück weit auch zu einem besseren Regisseur gemacht hat. Dank ihrer Theaterarbeit ist sie jemand, der dem Skript viel Bedeutung beimisst. Und wenn es ihr gefällt, vertraut sie darauf, dass alles, was sie über die Figur wissen muss, darin enthalten ist. Sie kommt mit einem Sack voller Ideen ans Set, und alles, was sie macht, ist von einem sicheren Instinkt getragen. Sie ist ein Phänomen. Ich würde sagen, sie ist eine unserer größten, wenn nicht sogar die größte Schauspielerin, die wir in Deutschland haben.

Tom Schilling, Protagonist Ihres ersten Films „Oh Boy“, ist auch wieder an Bord. Oft setzen Regisseure erfolgreiche Zusammenarbeiten mit Schauspielern gerne fort. War das für Sie auch entscheidend?
Jan-Ole Gerster: Mit Kolleginnen und Kollegen, die ich mag oder mit denen ich befreundet bin, arbeite ich gerne immer wieder zusammen. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als eine große Arbeitsfamilie. Das ist im Grunde genommen mein größter Traum, dass man nach drei, vier Filmen sein Ensemble gefunden hat und mit einem festen Team zusammenarbeitet. Man definiert sich nicht nur über das, was man macht, sondern auch darüber, wie man es macht. Man verbringt so viel Zeit mit dem Prozess, dass man darauf achten sollte, dass der Prozess Spaß macht.

Was macht reifere Schauspielerinnen, die neuerdings wieder zunehmend für die Leinwand entdeckt werden, spannend?
Jan-Ole Gerster: Ich mache doch die Erfahrung bei mir selber, aber auch bei Freunden, dass ältere Männer viel schneller in Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit abrutschen. Frauen dagegen nicht, von ihnen geht eine ganz andere Kraft und Klugheit aus, die mir jetzt erst richtig bewusst wird. Vor ein paar Jahren kam der Film 45 Years mit Charlotte Rampling ins Kino, die beispielhaft dafür stehen mag, oder nehmen wir Isabelle Huppert, die immer wieder tolle Figuren darstellt, zum Beispiel in dem Film L’Avenir, der mir ebenfalls sehr gefiel. Ihn sah ich in der Vorbereitung zu Lara.

Aktuell finden sich im Kino auffallend viele Musiklehrerinnen respektive Musikerinnen, die sehr streng, garstig, beinahe sadistisch mit sich selbst und ihren Schülern umgehen. Beispiele: Kristin Scott Thomas in „Der Klavierspieler vom Gare du Nord“, Ursina Lardi in „Prélude“, demnächst kommt noch Nina Hoss in „Das Vorspiel“. Ina Weisses Film „Das Vorspiel“ und „Lara“ heben sich von den anderen Produktionen dadurch ab, dass sie authentisch und anspruchsvoll von der klassischen Musikwelt erzählen. Aber woher rührt dieses starke Interesse für strenge Lehrerinnen?
Jan-Ole Gerster: Dass Ina Weisse und ich ähnliche Filme gemacht haben, ist reiner Zufall, und ich hoffe, dass beide als eigenständige Werke angesehen werden. Ich habe ihren Film wie auch die anderen genannten leider noch nicht gesehen, nur darüber gelesen.  Dass das deutsche Kino im Herbst 2019 nun so geballt die klassische Musik entdeckt, ist tatsächlich bemerkenswert.

Die Komposition, die Harfouchs Filmsohn Viktor beim Klavierabend in der zweiten Hälfte spielt, hat der Münchner Komponist Arash Safaian geschrieben. Wie kamen Sie auf ihn?
Jan-Ole Gerster: Arash Safaian hat vor ein paar Jahren mit seinem Klavieralbum „Über Bach“ für Aufsehen gesorgt. Er wurde mir von unserer Musikberaterin empfohlen, weil ich mir es nicht nehmen lassen wollte, für den Film exklusiv ein Stück komponieren zu lassen. Das war natürlich eine große Herausforderung. Arash war der richtige Mann für uns, vor allem auch deshalb, weil er für die Rückkehr der großen Emotionen in die moderne klassische Musik kämpft, die für viele Menschen eine sehr verkopfte, oft atonale, elitäre, nicht zu fassende Kunst geworden ist. Seine Mission passte also gut zu unserem Film. Arash wollte das Stück sehr einfach beginnen lassen. Seine Virtuosität kann die Figur Viktor ja bereits mit Chopins „Revolutionsetüde“ unter Beweis stellen. So fängt das Stück also fast kindlich naiv an, mit Tönen, die nach und nach zu einer Melodie werden. Arash hatte die Idee, dass es auf eine Art und Weise komponiert ist, dass Tom es selber spielen kann.

Tom Schilling kann demnach Klavier spielen?
Jan-Ole Gerster: Tom kann Akkorde greifen und Melodien spielen, aber er ist kein ausgebildeter Pianist. Er hat sich das Klavierspielen, ehrgeizig wie er ist, selbst beigebracht. In der Vorbereitung zum Film hat er Klavierunterricht bekommen und so lange geübt, bis er die nicht gerade leichte „Revolutionsetüde“ tatsächlich spielen konnte. Also Tom konnte sie am Ende des Klavierunterrichts auf eine Art und Weise spielen, die alle Profimusiker, die involviert waren, hat staunen lassen. Er hat sie, wenn er sie fehlerfrei gespielt hat, nicht ganz so schnell gespielt, wenn er sie schnell gespielt hat, waren hier und da ein paar Fehler drin, aber faktisch konnte er das.

Ist es nicht aber auch riskant, einen arrivierten Komponisten heranzuziehen? Lara sagt an einer Stelle im Film, das neu komponierte Stück sei etwas eingängig. Und da sie als instinktsichere Expertin in dem Film auftritt, frage ich mich, ob denn ein namhafter Komponist absichtlich unter seinem Level komponieren kann?
Jan-Ole Gerster: Ich weiß genau, worauf Sie hinauswollen: Wie vermittelt man einem gestandenen Komponisten, dass er ein mittelmäßiges Stück zu komponieren hat? Ich habe mich da vorsichtig herangetastet. Als ich Arash kennengelernt habe, sagte ich ihm, es gehe darum, ein Stück zu komponieren, das ambivalent besprochen wird. Unsere Hauptfigur beschreibt es als eingängig, fast gefällig und musikantisch. Das Publikum feiert dieses Stück, am Ende gibt es auch Komplimente von einem Musikkritiker. Arash hat damit aber überhaupt keine Ego-Probleme gehabt, er wusste, was zu tun ist. Geschmack ist schließlich auch keine messbare Einheit. Es wird immer in der Kunst Leute geben, die eine Sache mögen, Dinge an einem Werk schlecht finden, die andere wieder ganz toll finden. Alles, was Lara an dem Stück kritisiert, wird später von dem Musikkritiker, den Arash in einem kleinen Auftritt übrigens selbst spielt, als positiv beschrieben.

Kommen wir noch auf die Struktur des Films zu sprechen. Er spielt wie „Oh Boy“ an einem Tag. Solche auf knappe Zeiträume fixierte Strukturen finden sich auch im rumänischen Kino, denken wir etwa an „Der Tod des Herrn Lazarescu“ von Cristi Puiu.
Jan-Ole Gerster:
Ich liebe rumänisches Kino. Dass meine beiden Filme an einem Tag spielen, ist allerdings ein Zufall. Ich habe nicht nach Oh Boy nach einem Film gesucht, der eine ähnliche Form hat, eher im Gegenteil: Mich hat es fast ein bisschen gestört, dass ich mich mit einem Projekt trage, das wieder an einem Tag spielt.  Das rumänische Kino erhebt den Anspruch, das komplette Gegenteil von Hollywood zu sein, legt jeglichen Effekt und Pose ab, um etwas sehr Pures und Wahrhaftiges zu schaffen. Das ist schon etwas, was mich sehr fasziniert, trotzdem würde ich meine Filme nicht in die Nähe dieser tollen Filme bringen wollen. Wenn es eine Sache gibt, die man als Gemeinsamkeit ausmachen kann, dann die, dass ich in den einfachen, vermeintlich beiläufigen Dingen des Lebens meine Geschichten zu finden suche – und nicht im Spektakel.