Die Oscars mit ihrem Mix aus Entertainment, Feierlichkeit und Politpredigt stehen vor der Tür – Anlass für einen kurzen Überblick.
Wenn nichts dazwischenkommt, werden am 10. März in Los Angeles wieder einmal die Academy Awards verliehen – zum insgesamt 96. Mal und zum vierten Mal unter der Moderation von Late-Night-Host Jimmy Kimmel. Zwar sind die Oscars, die seit 2002 im Dolby Theatre am Hollywood Boulevard über die Bühne gehen, immer noch die publikumsträchtigsten Filmpreise der Welt, doch im Lauf der letzten Jahre sind die Einschaltquoten auch hier merklich nach unten gegangen. Branchen-Experten führen dafür beispielsweise eine sich verändernde Medienlandschaft ins Feld (im Zeitalter der Influencer und Social-Media-Selbstdarstellung sind Hollywoodstars nicht mehr die Übergötter, die sie einst waren; lineares Fernsehen wird aufgrund der Streaming-Konkurrenz weniger gesehen; Streaming an sich hat dem Kino viel Glamour geraubt; etc.). Auch scheint das Format „Award Show“ an sich immer größere Schwierigkeiten zu haben, mit heutigen Sehgewohnheiten, die eher auf kurze Häppchen trainiert sind, mitzuhalten: Einerseits dauert die Zeremonie bei allen Kürzungen immer noch recht lang (im Schnitt sind es dreieinhalb Stunden; legendär die vielen vom Orchester abgewürgten Dankesreden oder nicht zündende Moderationsgags), zudem sind nicht alle von den politischen Predigten begeistert, die ins Entertainment eingestreut werden (ungefährer Tenor: Multimillionäre erklären dem Rest der Welt, wie er zu leben hat). In den Nullerjahren waren noch über 40 Millionen Menschen dabei – Zahlen, die man seit 2014 nicht mehr erreichen konnte. Bis 2023 hatte sich die Seherschaft gar halbiert: Zusammengerechnet 19,9 Millionen Zuseherinnen und Zuseher erreichte man im Vorjahr laut ABC auf linearen und digitalen Plattformen. Silver Lining: Die stets etwas schwankenden Quoten war immerhin um acht Prozent höher als noch 2022.
Die Academy versuchte jedenfalls immer wieder, dem Publikumsschwund entgegenzuwirken: Als besonders effektive PR gilt etwa das „Oscar-Selfie“ von 2014, auf dem sich Stars wie Ellen DeGeneres, Bradley Cooper, Brad Pitt, Angelina Jolie, Meryl Streep oder Kevin Spacey das Bild teilten. Das von DeGeneres gepostete Bild gilt mit 3,4 Millionen Retweets als das am meisten geteilte Selfie in der Geschichte der Social-Media-Plattform Twitter (mittlerweile X); Samsung, Hersteller des verwendeten Smartphones, zahlte dafür 18 Millionen Dollar an zwei Hilfsorganisationen. Hier war man tatsächlich am Puls des noch relativ jungen Social-Media-Zeitalters, doch nicht alle Interventionen in Sachen Breitenwirkung glückten: 2018 kündigte man etwa einen „Academy Award for Outstanding Achievement in Popular Film“ an, mit dem man Blockbuster (damals besonders Superheldenfilme) ehren und somit ein jüngeres Publikum ansprechen wollte – nach Kritik an relativ plumper Kommerz-Anbiederung wurde die Kategorie aber dann doch nicht eingeführt. 2022 probierte man es mit einer „Fan Favorite“-Kategorie: Fans konnten auf Twitter über ihren Lieblingsfilm abstimmen. Dies war allerdings nicht einmal mit dem Gewinn eines „echten“ Oscars verbunden – als Sieger ging Zack Snyders Army of the Dead hervor – und die letztlich irrelevante Sparte wurde nach nur einer Oscar-Ausgabe wieder eingestampft.
Insgesamt sind die Oscars aber natürlich immer noch ein Groß-ereignis; Cineastinnen und Cineasten diskutieren verlässlich darüber, wer zu Recht oder Unrecht nominiert bzw. wer von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences ganz übersehen wurde. Eine gewisse Aufregung im Vorfeld bzw. im Nachgang ist natürlich auch den Veranstaltern nicht Unrecht, hält sie den Preis doch im Gespräch; die Ohrfeige, die Will Smith Moderator Chris Rock im Jahr 2022 verpasste, sorgte noch wochenlang für Gesprächsstoff. Heuer gab es bislang auch schon ein klein wenig Aufregung, weil Greta Gerwig für Barbie nicht als Beste Regisseurin, sondern „nur“ als Beste Drehbuchautorin und als Ko-Produzentin für den Besten Film nominiert wurde. Manche sehen dies als anti-feministisches Statement der Academy, andere hingegen finden dies gerechtfertigt, da sie im pinken Blockbuster zwar kurzweiliges Entertainment, aber weit und breit keine feministische Grundierung erkennen konnten. Mit acht Nominierungen, was ja nicht nichts ist, liegt Barbie jedenfalls an vierter Stelle, was die Gesamtnominierungen in diesem Jahr betrifft (dass Hauptdarstellerin Margot Robbie nicht nominiert ist, ergab im Vorfeld ebenfalls ein wenig Gesprächsstoff).
DIE TRENDS UND DIE BUCHMACHER
In den Nominierungen in der Kategorie Bester Film lässt sich insgesamt ein Trend zu Werken erkennen, die sich mit dunklen Kapiteln amerikanischer Geschichte beschäftigen bzw. gesellschaftliche Brennpunkte behandeln: Christopher Nolans Oppenheimer, ein Porträt des „Vaters der Atombombe“, führt mit dreizehn Nominierungen das Feld an (u. a. auch für die Beste Regie, für den Besten Hauptdarsteller Cillian Murphy, Nebendarsteller Robert Downey Jr. und Nebendarstellerin Emily Blunt). Ob Nolan, der zuvor schon fünfmal nominiert war (davon einmal für Beste Regie) diesmal punkten kann, wird sich zeigen; bei den Golden Globes konnte er immerhin schon abräumen. Potenzial gäbe es jedenfalls für einen Hattrick: Neben dem Regiepreis könnte der Brite die Trophäe für das Beste Originaldrehbuch sowie als Mitproduzent für den Besten Film holen.
Chancen auf elf Preise (inklusive Bester Film) hat Poor Things (Regie: Giorgios Lanthimos), bei dem man Parallelen zu Barbie erkennen kann: Auch hier waren trotz guter Kritiken nicht alle davon überzeugt, dass die weibliche Frankenstein-Variante als feministischer Film durchgeht. Lanthimos, der einst mit radikalen, vielseitig interpretierbaren gesellschaftspolitischen Filmen begann, ist jedenfalls wie Nolan zum zweiten Mal als Bester Regisseur nominiert.
Wie Christopher Nolan taucht auch Regielegende Martin Scorsese in die dunklen Seiten der US-Historie ein: Killers of the Flower Moon, ein dreieinhalbstündiges Epos über eine Mordserie an Indigenen, könnte theoretisch zehnmal gewinnen. Auch Scorsese selbst wurde zum zehnten Mal nominiert, was ihn zum am häufigsten nominierten noch lebenden Regisseur macht. Mit dem im August 2023 verstorbenen Robbie Robertson (Beste Musik) hat Killers of the Flower Moonauch eine posthume Nominierung aufzuweisen.
Gesellschaftliche Brennpunkte greift ebenfalls der fünffach nominierte American Fiction auf; das satirische Werk über einen afroamerikanischen Lehrer, der mit klischeehaften Büchern über das Leben der Schwarzen in den USA zum Bestsellerautor wird, hat u. a. Chancen auf den Besten Film und den Besten Hauptdarsteller Jeffrey Wright. Auf ebenfalls fünf potenzielle Preismöglichkeiten bringt es The Holdovers von Oscar-Stammgast Alexander Payne (siehe „ray“ 02/24), der diesmal allerdings nicht selbst nominiert ist. Dafür können sich die Macher der in den siebziger Jahren spielenden Tragikomödie Hoffnung auf die Trophäe für den Besten Film sowie den Besten Hauptdarsteller Paul Giamatti machen. Der Mime ist zum Zeitpunkt, da dieser Artikel verfasst wird, übrigens der Favorit der US-Branchenbibel „Variety“. Weitere Vorhersagen des Magazins sind u. a. Oppenheimer als Bester Film, Lily Gladstone als Beste Hauptdarstellerin in Killers of the Flower Moon (die Prämierung der erste Indigenen in einer Hauptrolle wäre – unabhängig von der Qualität des Darstellerin – eine jener bei der Academy so beliebten gesellschaftspolitischen Messages) oder Spider-Man: Across the Spider-Verse als Bester Animationsfilm. Doch gibt es auch andere Meinungen: Auf den Seiten diverser Wettanbieter werden Cillian Murphy als Bester Hauptdarsteller und Emma Stone als Beste Hauptdarstellerin favorisiert. Alles is möglich, nix is fix. Greifen Sie also am 11. März zu diesem Heft und überprüfen Sie, wer Recht hatte: „Variety“ oder die Buchmacher – oder keine der Parteien.
Blicken wir noch ein wenig auf die (an ihrem Budget gemessen) „kleineren“ Produktionen: Nachdem 2023 der deutsche Antikriegsfilm Im Westen nichts Neuesviermal prämiert wurde, kann Deutschland diesmal Sandra Hüller die Daumen drücken (nominiert als Beste Hauptdarstellerin für Anatomie eines Falls der Französin Justine Triet; die Regisseurin des Justizdramas wurde ebenfalls bedacht) – sowie dem Spielfilm Das Lehrerzimmer, der in der Kategorie Bester internationaler Film u. a. mit dem italienischen Migrationsdrama Io capitano von Matteo Garrone konkurriert. Übrigens ist der deutsche Regiealtmeister Wim Wenders ebenfalls für den Besten internationalen Film nominiert, geht mit Perfect Days allerdings für Japan ins Rennen (dass dies zum ersten Mal in der Geschichte Nippons der Fall ist, ist ja schon eine Auszeichnung für sich). In selbiger Kategorie rittert auch Jonathan Glazers The Zone of Interest, der vom Leben des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höß erzählt, um die Goldjungen; das mit insgesamt fünf Nominierungen bedachte Geschichtsdrama ist noch zusätzlich in der Kategorie Bester Film nominiert. Für Statistikfans: Doppelnominierungen in den Kategorien Bester Film & Bester Fremdsprachiger Film gab es in der Geschichte der Oscars bereits achtmal.
Gelegenheit für ein politisches Statement bietet die Kategorie Bester Dokumentarfilm: Hier ist u. a. der ukrainische Film 20 Tage in Mariupol vertreten, der Ereignisse in der von russischen Truppen belagerten titelgebenden Stadt einfängt. Der österreichische Regisseur Mark Gerstorfer ist übrigens mit dem Kurzfilm Die unsichtbare Grenze, der Gold bei den Student Academy Awards gewann, relativ knapp an einer Nominierung vorbeigeschrammt.
Wird der Abend eher auf Entertainment, die Ehrung der Filmkunst oder auf Politik setzen? Wenn es nach den letzten Jahrzehnten geht, findet sich wahrscheinlich Platz für alle diese Dinge. Und wie jedes Jahr wird es manchen gefallen – und manchen nicht. Die alte Volksweisheit, wonach man es nicht jedem recht machen kann, scheint zu den Oscars zu passen wie die Faust aufs Auge. Also: Auf zum fröhlichen Diskutieren über die Nominierungen, die Showeinlagen und, je nachdem wann Sie dieses Heft in Händen halten, die Auszeichnungen.